Nachtengel
Untersuchung zur Feststellung der Todesursache geben, und sehr wahrscheinlich würde Tod durch Unfall festgestellt werden. Aber Lynne war noch nicht bereit, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Jetzt, wo sie Gemma Wisharts Bericht gelesen hatte, konnte sie Fingerabdrücke und zahnmedizinische Unterlagen an Interpol schicken. Katja war jung gewesen. Sie musste irgendwo eine Familie haben, die sie vielleicht suchte. Ostsibirien. Sie sah auf die Landkarte und stellte sich ein kaltes, unwirtliches Land mit weiten Ebenen und Tundra vor, wo der eisige sibirische Wind über eine düstere Industrielandschaft fegte. Sie las Katjas Personenbeschreibung: dunkle Haare, hohe Wangenknochen, orientalisch geschnittene Augen, und versuchte, sich vorzustellen, wie die junge Frau ihr Leben verbracht, gearbeitet, studiert oder die ersten verhängnisvollen Schritte in Richtung Sexindustrie gemacht hatte, die sie schließlich zu dem Außenposten des Kapitalismus an der Ostküste Englands geführt hatte, wo sie gestorben war.
Sheffield, Mittwochabend
Roz saß lesend in ihrem Arbeitszimmer. Sie hatte die Stehlampe hinter dem Sessel eingeschaltet, der alt und zerschlissen, aber so gemütlich war, dass sie sich nicht von ihm trennen konnte, und war in Charles Dickens' Bleakhaus vertieft. Der Regen fiel in Lincolnshire und auf Chesney Wold. Auf dem Geisterpfad waren Schritte zu hören. Eine schwarz gekleidete Frau ging auf das Eisentor zu, um in den dunklen Friedhof hineinzuspähen.
Roz hatte die Vorhänge nicht vorgezogen, die Hecke war hoch genug, um ihr Sichtschutz von der Straße her zu bieten, und sie schaute gern auf und betrachtete den Mond und die Zweige der Bäume, die sich im Wind bewegten. In der Ferne rauschte der Verkehr der Durchgangsstraße, aber hier in den Seitenstraßen war es still. Sie sollte das öfter tun, sich gemütlich hinsetzen und lesen, nicht für die Arbeit oder zu Forschungszwecken oder aus anderen praktischen Gründen, sondern einfach zum Vergnügen. Seit sie aus Bristol weggegangen war, hatte sie sich das Lesen abgewöhnt. Sie und Nathan hatten sich manchmal gegenseitig vorgelesen und versucht, den anderen für die Bücher zu begeistern, die sie besonders gern mochten. Nathan bevorzugte die düstere High-Tech-Sciencefiction, die sie nicht mochte, aber sie hatte alle Gormenghast-Bücher gelesen, nachdem er ihr Titus Groan ans Herz gelegt hatte.
Bleakhaus war einer ihrer Versuche. Es war ihr absolutes Lieblingsbuch, aber Nathan reagierte darauf höflich-gelangweilt: »Dickens?« Sie erinnerte sich an seinen irritierten Blick. »Wo sind wir denn, Roz? In der Schule?« An Bleakhaus - Abenden waren sie schließlich oft im Pub gelandet, und irgendwann hatte sie es aufgegeben. Aber der Roman, sein dunkles Geflecht von Verdorbenheit, das sich vom Zentrum her ausbreitete und die Höchsten und die Niedrigsten erfasste, bewegte sie immer noch, und sie war überrascht, als sie aufblickte und sah, dass es fast neun Uhr war.
Sie legte ein Lesezeichen ins Buch und klappte es zu, saß eine Weile bewegungslos da und starrte auf das im Spiegel reflektierende Mondlicht. Ihr Leben hatte zu lange stillgestanden. Es gab so viele Dinge, mit denen sie sich früher beschäftigt hatte und die sie jetzt nicht mehr tat. Sie hatte den Kontakt mit ihren Studienfreunden verloren, die überall im Land verstreut lebten. In Sheffield hatte sie nur wenige neue Freunde gefunden; es war manchmal einfacher, sich von Menschen fern zu halten, keine Fragen und Erklärungen zu riskieren, und nicht über Dinge reden zu müssen, an die sie nicht denken wollte. Sie hatte sich ein Leben zusammengezimmert, das nur aus ihrem Beruf bestand, und so getan, als sei das genug.
Vielleicht sollte sie das tun, was Jenny Bishop wollte: nach Lincoln fahren und Nathan besuchen. Vielleicht würde sie ihn nach dieser langen Zeit so sehen, wie er war, und aufhören, nach dem Mann zu suchen, der er früher einmal gewesen war. Dann würde sie begreifen, dass es den Mann, den sie geheiratet hatte, nicht mehr gab, dass es vorbei war und sie ein Recht hatte, ihren Weg weiterzugehen. Sie könnte ihre Schwiegermutter anrufen, und damit wäre die Entscheidung getroffen. Sie ging zum Telefon, zögerte aber, die Nummer zu wählen. Wollte sie dies wirklich tun, oder war es eine jener impulsiven Entscheidungen, die sie schon morgen bereuen würde? Sie …
Draußen war jemand. Sie hörte Schritte auf der Kieseinfahrt. Jemand ging an der Seite des Hauses entlang nach hinten.
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