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Nachtengel

Titel: Nachtengel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Danuta Reah
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sie von Marcus Holbrook erfahren? Er schien nicht viel mehr zu wissen als sie selbst. Gemma hatte offenbar sein Archiv benutzt. Morgen würde sie versuchen herauszufinden, welche Bänder Gemma abgehört hatte, aber im Moment hatte sie nur den Brief, den Bericht und die Niederschrift. Sie las den Bericht aufmerksam durch, fand aber nichts, das ihr helfen konnte. Nicht eine Stelle fiel ihr auf, an der Gemma vielleicht weitere Informationen hätte ergänzen können. Sie las, was Gemma zu der Sprache auf dem Band geschrieben hatte: … Verwechslung der Phoneme /v/ und /w/ … stimmlose Aussprache der auslautenden Konsonanten /b/, /d/ und /g/ … Fehlen des Hilfsverbs › be ‹ bei der Verlaufsform im Präsens … Roz begriff nicht, wieso Gemma den Bericht ergänzen wollte. Es war ja kein Gutachten für ein Gerichtsverfahren, sie sollte lediglich ihre Meinung abgeben, und das hatte Gemma getan und ihre Meinung mittels einer seitenlangen akribischen Analyse erläutert.
    Roz betrachtete den unvollständigen Brief an Marcus Holbrook. Alles stimmte mit dem überein, was Holbrook erklärt hatte. Sean hatte Gemma gesagt, das Archiv könne nicht genutzt werden. Gemma hatte sich direkt an Holbrook gewandt – aus welchem Grund? Warum sollte Gemma glauben, dass Holbrook ihr erlauben würde, ein Archiv zu nutzen, das gerade katalogisiert wurde? Roz sah sich Gemmas Brief an. Sie erinnern sich wohl an das Tonband, das ich … Das Band, das ich … was? Das ich Ihnen gab? Das Band, zu dem ich Ihnen Fragen stellte? Das ich Ihnen anbot? Was immer es war, Holbrook schien sich nicht daran zu erinnern.
    Gemma war drei Jahre in Nowosibirsk gewesen, um für ihre Doktorarbeit Material zu sammeln. Sie musste stundenlange Bandaufnahmen zusammengetragen haben. Vielleicht hatte sie Holbrook die ganze Sammlung angeboten, obwohl es unwahrscheinlich war, dass er so ein Angebot hätte vergessen können. Außerdem waren Bänder mit russischen Sprechern keine Seltenheit. Gemma war während ihrer Forschungen über – sie versuchte krampfhaft, sich zu erinnern – ja, Nenzisch, eine Sprache, die im nördlichsten Gebiet von Russland gesprochen wird, von Archangelsk nach Dudinka gefahren. Etwa fünfundzwanzigtausend Menschen zwischen dem Weißen Meer und dem Jenissei-Fluss sprachen diese Sprache noch. Roz wusste nur sehr wenig über die Geographie Russlands, deshalb holte sie ihren Atlas, um die Orte zu suchen. Nowosibirsk lag fast tausendsechshundert Kilometer südlich von dem Gebiet, in dem Nenzisch gesprochen wurde. Sie betrachtete die Landkarte und fuhr mit dem Finger an der nördlichen Küste entlang. Gemma hatte die Zeit in Sibirien genossen und war viel gereist. Wo war der Ort, an dem man ihr den Wandteppich mit den glühenden Farben geschenkt hatte, der in ihrer Wohnung hing? Da war es: Dudinka an der Mündung des Jenissei.
    Ihr Gefühl, etwas erreicht zu haben, verlor sich wieder, als ihr klar wurde, dass sie das nicht weiterbrachte. Sie zerbrach sich den Kopf. Irgendetwas während der Unterhaltung mit Holbrook hatte sie an etwas erinnert, und sie kam nicht darauf, was es war. Sie klopfte mit dem Bleistift gegen ihre Zähne, während sie nachdachte, und las noch einmal den Brief.
    Betr.: Holbrook-Archiv      
Lieber Professor Holbrook,      
vor kurzem habe ich mich wegen der Nutzung Ihres Archivs an Ihren Assistenten gewandt, um bestimmte Bänder vergleichen zu können. Offenbar wird die Sammlung zur Zeit katalogisiert und kann nicht benutzt werden. Sie erinnern sich wohl an das Tonband …
    Es klang, als hätte Gemma an jemanden geschrieben, den sie kannte und bei dem sie gemeinsame Erfahrung und Kenntnisse voraussetzte. Sie erinnern sich wohl … Und anscheinend nahm sie an, dass Holbrook ihr einen Gefallen tun werde. In dem Brief ging es offensichtlich um die Bitte, das Archiv oder einen Teil davon, vermutlich das Tonband, an das Holbrook sich ›erinnern‹ würde, benutzen zu dürfen. Und doch erinnerte sich Holbrook nicht. Auch hatte er zu Roz nichts über Gemmas Tod gesagt. Es kam ihr merkwürdig vor, dass er kein Bedauern zum Ausdruck gebracht und nichts zu dem Geschehen gesagt hatte, außer einer ziemlich verdrießlich klingenden Bemerkung, dass die Polizei bei ihm gewesen sei. Sie hatte angenommen, dass er einfach so war: ein vollkommen egozentrischer Wissenschaftler. Aber wenn er zu Gemma freundlich gewesen war … Vielleicht wollte er seine Gefühle nicht zeigen. Der englische Mann, der stets Haltung

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