Nachtengel
Sie legte den Hörer auf und horchte. Die Schritte wurden leiser. Wer immer es war, er war jetzt in ihrem Garten hinterm Haus.
Sie hatte im Flur kein Licht angemacht. Vielleicht hatte jemand, der vorbeigekommen war, gedacht, das Haus sei leer. Die meisten Einbrüche in der Gegend wurden von Gelegenheitsdieben verübt, die die Gelegenheit, wenn niemand zu Hause war, ausnützten. Der Gedanke, dass jemand hinter ihrem Haus umherschlich, gefiel ihr nicht. Niemand konnte den Garten einsehen, und das Nachbarhaus war leer und verlassen.
Sie wusste, dass die Tür abgeschlossen war, aber bei der Garage und dem Küchenfenster war sie nicht sicher. Die Polizei anrufen? Wie lange würde es dauern, bis jemand kam? Sie nahm ihr Handy, ging leise durch die Küche und versuchte hinauszuschauen, aber es war zu dunkel. Doch sie konnte immer noch die vorsichtigen Schritte im Garten hören.
Den Notruf zu wählen schien ihr zu dramatisch, aber sie gab die Nummer ein und hielt das Telefon in der Hand. Dann ging sie durch die Küche zur Hintertür, wo die Lichtschalter waren. Sie zögerte einen Moment, dann drückte sie auf den Schalter, und der Garten wurde hell beleuchtet.
Das Telefon fiel klappernd zu Boden. Sie blickte durch das Fenster und sah sich jemandem gegenüber … Die Gestalt, die draußen stand, entpuppte sich als Luke, der die Hand gehoben hatte und gerade an die Tür klopfen wollte. Sie starrten sich einen Augenblick erschrocken an, dann schloss Roz die Tür auf und schob den Riegel zurück. »Luke«, sagte sie und machte die Tür auf, »du hast mir eine Heidenangst eingejagt. Luke.« Sie nahm seine Hand, und nach kurzem Zögern kam er herein, und sie legte die Arme um ihn. Er fühlte sich steif und ungeschickt an, wurde lockerer, zog sie zu sich heran und vergrub sein Gesicht an ihrem Hals.
»Roz«, sagte er. »O Gott, ich … Roz!«
Ein paar Minuten standen sie in dieser unbeholfenen Umarmung da. Schließlich löste er sich von ihr und ließ sich auf einen Stuhl am Küchentisch fallen. Sie schloss die Tür hinter ihm und sah ihn an. Er war unrasiert und blass und sah aus, als hätte er nicht viel geschlafen, aber getrunken oder sonst irgendetwas genommen. Seine Augen glänzten eigenartig. »Ich sehne mich nicht gerade nach Gesellschaft«, sagte er und setzte sich. »Ich bin gekommen, um das Motorrad zu holen.«
Sie setzte sich ihm gegenüber. »Du siehst ja entsetzlich aus«, sagte sie. Er grinste schwach. »Danke, Roz«, sagte er zitternd.
»Joanna hat mir gesagt …«, begann sie.
»Ach, die Grey kann mich am Arsch lecken. Ich komm schon klar.« Er tat die Sache so entschieden ab, dass sie fast erleichtert war. Was immer gelaufen war, es klang, als hätte Joanna alles völlig falsch verstanden.
»Kaffee?« Sie wollte ihm keinen Alkohol anbieten. Er nickte. »Du frierst. Ich mach den Ofen an.«
Sie schaltete den Heizlüfter ein und öffnete eine Packung Kaffee. Als sie ein paar Löffel in die Kaffeemaschine gab, zog Kaffeeduft durch den Raum. »Ich hab den ganzen Tag versucht, dich anzurufen«, sagte sie.
»Ich weiß, ich hab deine Nachricht bekommen. Ich hab dir schon gesagt, mir ist nicht nach Geselligkeit.« Er saß zusammengesunken auf dem Stuhl, die Hände vor sich auf dem Tisch. Er nahm ein Platzdeckchen und fing an, die Webfäden herauszuziehen. Seine Augen wurden schmal vor Anspannung. Sie konzentrierte sich auf das, was sie gerade tat, und spürte förmlich das Schweigen im Raum. Von der Straße ertönten ein paar Takte leise Musik, dann hörte sie das Geräusch eines anfahrenden Autos und den nächtlichen Schrei einer Eule. Sie goss Milch in einen Topf. Als er anfing zu sprechen, zuckte sie zusammen. »Sie sagten, sie hätte für eine Begleitagentur gearbeitet.« Seine Stimme war tonlos. »Sie glauben, dass sie deshalb umgebracht wurde.«
Roz drehte sich um, die Milchflasche in der Hand. »Gemma?«, fragte sie. »Was meinst du mit Begleitagentur?«
»Sie war eine Prostituierte, Roz. Was glaubst du, was ich gemeint habe? Ein Callgirl, eine Nutte. Das hab ich gemeint.«
»Das ist ja …« Es war lächerlich. Unmöglich. Sie erinnerte sich an die Diskette, die aus Gemmas Tasche gefallen war und auf der die Fotos gespeichert waren. Bilder, auf denen sie gefesselt war. Porno im Netz.
»Sie glauben, dass ich ihr Zuhälter war. Oder dass ich nichts davon wusste und es entdeckt habe. So oder so, sie meinen, dass ich sie umgebracht habe.«
Roz schloss die Augen. »Aber sie haben dich gehen lassen«,
Weitere Kostenlose Bücher