Nachtengel
sagte sie.
»Fürs Erste.« Er legte das ruinierte Platzdeckchen weg und hob einen Kuli auf, der unter dem Tisch lag. Er fing an, ihn herumzudrehen, und beobachtete, wie das Licht darauf glänzte. »Sie haben meine Wohnung durchsucht und mit allen Leuten gesprochen, die ich kenne …« Roz dachte an die Fragen, die ihr gestellt worden waren. »Sie glauben, dass ich es war.« Er zuckte die Schultern und sah sie an.
»Warum sagen sie, dass Gemma eine Prostituierte war? Wieso sind sie auf die Idee gekommen?« Er sagte nichts.
»War sie eine?«
»Ach, verdammt noch mal, Roz. Was meinst du denn?«
»Dass sie einen Grund gehabt haben müssen«, sagte sie. Schweigend saß er da und starrte den Kuli an, den er immer noch herumdrehte.
»Pass auf, Roz, es gibt da etwas …«
»Ich kannte sie nicht so gut …«
Sie hatten beide gleichzeitig angefangen zu sprechen, und er schüttelte den Kopf, als sie ihm ein Zeichen machte, er solle weitersprechen. »Ich sagte nur, ich kannte sie nicht so gut. Nicht so wie dich.«
Er starrte auf den Kuli hinunter. »Ich kannte sie nicht so gut.« Ihre Blicke trafen sich. »Sie war nur vorübergehend hier. Ich habe dir ja gesagt, sie plante, wieder nach Sibirien zu gehen, nach Nowosibirsk. Dort ist jemand, zu dem sie zurückgehen wollte. Wir haben nicht darüber gesprochen.«
Niemand spricht über die Dinge. Roz stand da, sah ihn an und überlegte, was sie sagen könnte. Sie schenkte zwei Tassen Kaffee ein und setzte sich. »Warum haben sie das über Gemma gesagt?«, fragte sie noch einmal.
Sie glaubte schon, er würde nicht antworten, da sagte er: »Diese Fotos. Sie haben sie mir gezeigt. Sie hatten sie von einer Internetseite – der Seite einer Begleitagentur.«
Das könnte der Grund sein, warum Gemma sie auf einer Diskette gespeichert hatte, damit jemand sie ins Netz stellen konnte. »Diese Diskette …«, fragte sie.
Er rieb sich das Gesicht. »Keine Ahnung. Es waren einfach Fotos, Himmel noch mal. Sie muss sie eingescannt haben … ich weiß nicht.« Seine Hände umklammerten die Tasse. »Ich weiß nicht, was ich machen soll«, sagte er.
Aber es waren nicht einfach Fotos. Sie sah die Bilder noch deutlich vor sich. Das helle Licht ließ die Küche kahl erscheinen, die roten Bodenfliesen, das schwarze Viereck des Fensters, die auf dem Abtropfbrett aufgereihten Teller. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Genauso wenig wusste sie, was zu tun war. »Solltest du nicht mit einem Anwalt sprechen?« Das schien ein kühl analysierender Vorschlag. Gemma war tot, und sie redete über Anwälte. »Sie hätten gern, dass du es warst, weil ihr eine … Beziehung hattet. Das macht es ihnen leichter. Aber sie haben dich gehen lassen. Sie werden woanders suchen müssen.«
Plötzlich sah er erschöpft aus. »Nur eine Sache, das reicht schon, Roz. Ich habe kein Alibi. Wenn sie mir eine Kleinigkeit nachweisen … Wenn sie erst einmal überzeugt sind, dann machen sie eine Anklage daraus.« Er stützte seinen Kopf einen Moment auf die Hände. »Die Sache ist …« Er hielt inne. »Ich bin zu müde dafür, Bishop. Ich erzähl's dir morgen Früh. Kann ich auf deinem Sofa übernachten?«
»Natürlich. Das weiß du doch.« Sie hielt ihre Tasse mit beiden Händen und beobachtete, wie sich das Licht darin spiegelte. So spät sollte sie keinen Kaffee trinken. Dann fiel ihr etwas ein. »Sie wissen Bescheid, oder? Die bei der Polizei? Über die Fotos?«
Er sah sie ungeduldig an. »Das hab ich dir doch schon gesagt, Bishop. Sie haben sie mir gezeigt.«
»Nein, ich meine, wissen sie, dass du sie aufgenommen hast?«
Er sah sie an. »Natürlich. Ich habe es ihnen gesagt.«
Eine Spannung, von der sie nichts gewusst hatte, fiel von ihr ab. Dass sie der Polizei nichts von den Fotos und von Luke erzählt hatte, hatte sie seit der Befragung belastet. Wenn sie es herausfanden … aber Luke hatte es ihnen ja schon gesagt.
Er runzelte leicht die Stirn. »Du hast es ihnen nicht gesagt?« Sie schüttelte den Kopf. Er sah sie aufmerksam mit schmalen Augen an. »Warum nicht, Roz?« Seine Stimme war leise, aber seine Haltung aufmerksam, als sei alle Müdigkeit von ein paar Minuten zuvor verflogen.
»Ich weiß nicht.« Sie fand selbst, dass es wenig überzeugend klang. Sie wusste genau, warum sie es ihnen nicht gesagt hatte.
»Verdammt, Roz.« Er sprach langsam, aber seine Finger, mit denen er die Tasse umklammert hielt, waren weiß. Er sah sie an und schüttelte den Kopf. »Du hast gedacht, ich hätte
Weitere Kostenlose Bücher