Nachtengel
eine Gehirnerschütterung, ein gebrochenes Fußgelenk und die Erkenntnis eingebracht, dass sie ihrem eigenen Urteil nicht mehr trauen konnte. Und es hatte sie ihren Glauben an sich selbst gekostet – wünschte sie in der Zeit unmittelbar danach nicht oft genug, Nathan wäre tot, weil sie mit seiner Wut und Verzweiflung nicht fertig wurde? Es schien fast, als wäre der Tod besser als das, was ihm geschah. Und ihre eigene Panik und ihre Angst, als er sich schließlich tatsächlich gegen sie wandte … Wenn sie stark genug gewesen wäre, hätte sie in diesem Moment alles Mögliche tun können.
Ihre Hand wollte schon nach dem Hörer greifen, dann zog sie sie zurück. Sie musste Luke Zeit geben.
Sie schaltete ihren Computer ein, wartete, bis er hochgefahren war, und sah dabei aus dem Fenster. Es war ein schöner Wintertag, der Himmel wolkenlos, und die Sonne warf scharfe Schatten an die Wände ihres Zimmers.
Etwas auf dem Monitor fiel ihr auf. Der Bildschirm war tiefblau, ein Blau, das Probleme bedeutete. Der Computer meldete ihr, sie hätte das Programm nicht richtig geschlossen und dass er nun verschiedene Tests durchführen werde, um zu prüfen, ob ein Schaden eingetreten sei. Als sie das sah, runzelte Roz die Stirn. Sie fuhr den Computer immer richtig herunter. Das machte sie so automatisch wie atmen. Sie beobachtete, wie der Rechner den Kontrollprozess durchlief, sie wegen ihres Leichtsinns tadelte und dann erneut hochfuhr. Jedenfalls war nichts verloren gegangen.
Sie ließ es als eines der Rätsel, die einfach zu den neuen Technologien zu gehören schienen, auf sich beruhen und fing an zu arbeiten. Heute konnte sie sich konzentrieren. Ihre Gedanken schweiften nicht zu Themen ab, an die sie jetzt nicht denken wollte. Aber sie wurde bei ihrem Versuch, eine schwierige Textstelle in sinnvolle Kategorien zu unterteilen, durch das Geräusch der Tür und von Joannas Stimme unterbrochen. »Roz!« Joanna in ihrem eleganten Aufzug für Meetings schloss die Tür hinter sich. Sie schien sich zu freuen. »Gute Nachrichten! Gestern habe ich vom Vizekanzler gehört, dass die Law-and-Language-Group als unabhängige Gruppe bestehen bleibt und dass wir alle unsere Gelder behalten. Und« – ihre Augen funkelten – »ich bekomme Mittel für eine zusätzliche Stelle und für zwei Neue mit Abschlussexamen. Wir brauchen einen Forscher für die Software-Entwicklung.«
Roz versuchte, sich zu freuen. Sie freute sich tatsächlich. Es waren gute Nachrichten sowohl für sie als auch für Joanna. »Das ist großartig.« Joanna schien von ihrer Reaktion enttäuscht, deshalb zwang sich Roz zu einem Lächeln und wiederholte: »Das ist großartig, wirklich.«
Joanna sah sie einen Moment an. »Ich habe das mit Gemma nicht vergessen, Roz. Aber ich muss mich weiterhin um diese Dinge kümmern. Wenn wir jetzt lockerlassen, ist alles weg. Es geht ja nicht nur um uns, weißt du.«
Joanna hatte Recht. Es gab unerledigte Aufträge und Forschungsverträge, die sie einhalten mussten, all dies hatte sich nicht geändert. »Ohne Luke werden wir nicht sehr weit kommen«, sagte Roz.
»Wir können jetzt eine Forschungsstelle neu besetzen«, sagte Joanna. »Ich denke da an jemand Bestimmten. Und ich habe heute Morgen kurz mit Luke gesprochen.«
»Wie ging's ihm?«
Joanna hatte offenbar die Anteilnahme in ihrer Stimme gehört, denn sie sah Roz scharf an.
»Er war außergewöhnlich schweigsam«, sagte sie knapp. Roz betrachtete den Bildschirm, sie wollte nicht, dass Joanna sie grinsen sah, aber sie konnte sich genau vorstellen, wie Luke sich gegenüber Joanna verhalten hatte. Wenigstens hatte er mit ihr gesprochen. »Aber er hat sowieso vor, zu kündigen.«
»Was?« Lukes unerbittlicher Gesichtsausdruck ging ihr durch den Sinn. Das war typisch für seine impulsiven Wutausbrüche.
»Wann?«
»Ich glaube, es ist das Beste so«, schloss Joanna das Thema ab. »Du hast gestern deine Tür nicht abgeschlossen, Roz. Sie war offen, als ich kam, um Akten zu holen.«
»Ich hab doch …«, fing Roz an, dann wurde ihr klar, dass sie sich nicht erinnern konnte. Offenbar hatte sie auch den Computer nicht richtig heruntergefahren. Sie seufzte. »Ich bin wohl ziemlich zerstreut in letzter Zeit. Tut mir Leid.« Sie musste Luke anrufen und ihn davon abhalten, seine Arbeit wegen seiner Impulsivität wegzuwerfen.
Joanna sah sie an. »Ich glaube, das ist bei uns allen so. Aber du kannst nichts tun, Roz. Wir werden einfach weitermachen müssen.«
»Das tue ich ja«,
Weitere Kostenlose Bücher