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Nachtengel

Titel: Nachtengel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Danuta Reah
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Entscheidung.
    »Ich habe heute Spätschicht. Nasim ist fort«, hatte er gesagt. »Hör zu, Anna …« Er schien es sich anders zu überlegen, hatte wohl etwas anderes sagen wollen. »Hast du Hunger?« Er hatte eine Tüte dabei. »Ich habe Brote gemacht. Käse. Und ich habe Äpfel. Wir können gleich Tee trinken.«
    Anna war auf der Couch ein Stück zur Seite gerutscht, damit er sich setzen konnte. »Danke«, sagte sie. Die Schnitten waren aus dem komischen weichen Brot, das die Leute hier aßen. Sie hatte gedacht, sie hätte Hunger, aber die Brote schmeckten nach nichts, und als sie eines gegessen hatte, verlor sich ihr Hunger. Sie fand, es war ein merkwürdig unbefriedigendes Essen für jemanden, der die ganze Nacht arbeitete. »Sonst isst du nichts?«
    Er lächelte und schüttelte den Kopf. »Ich habe richtig zu Abend gegessen, als ich zu Hause war. Das hier ist extra.« Er hatte die Brote für sie gemacht.
    »Wo ist dein Zuhause?« Sie wusste nichts über ihn, außer dass er hier arbeitete, ihr geholfen hatte, als sie in Not war, sie ohne weitere Erklärung verstanden hatte, und er war gütig gewesen. »Und deine Frau? Deine Kinder?«
    Er hatte zu Boden geblickt. »Ich bin nicht verheiratet, Anna.« Er schwieg ein paar Minuten und sagte dann: »Ich lebe allein. Ich versorge mich selbst und arbeite hier.« Er hatte gelächelt und sie mit seinen gütigen Augen angesehen. »Das genügt mir.«
    Sie dachte an seinen krummen Rücken und wie unbeholfen er ging. Natürlich. Er war wie Krischa. War so auf die Welt gekommen. Frauen hatten ihn nicht haben wollen. »Arbeitest du hier?«
    Er nickte. »Ehrenamtlich. Ich bekomme eine kleine Rente wegen …« Er zeigte auf seinen Rücken. »Ich habe immer irgendeine ehrenamtliche Arbeit gemacht. Um etwas zurückzugeben.«
    Er hatte wieder zu Boden geblickt und sie dann angesehen. »Ich wollte mit dir über etwas sprechen.« Nach kurzem Schweigen sagte er langsam, als wähle er seine Worte mit Bedacht: »Anna. Deine Eltern sind umgekommen. Du bist illegal hierher gekommen, aber du warst sehr jung. Vielleicht kannst du bleiben. Hast du etwas dagegen, wenn ich mich erkundige?«
    Sie starrte auf ihre Hände. Vielleicht kannst du bleiben … Nachdem sie von Angel weggelaufen war, wusste sie genau, dass er sie angelogen hatte. Aber jetzt war es bestimmt zu spät. Sie war eine Prostituierte, eine Diebin. Sie sah Matthew an. »Ich habe …« Sie wusste nicht, wie sie es sagen sollte.
    »Ich weiß, Anna.« Er wusste es wirklich. Sie erinnerte sich an sein trauriges Gesicht, als sie damals zum ersten Mal mit ihm gesprochen hatte. Sie fand es schrecklich, dass er es wusste. Sie hätte diesen ganzen Teil ihres Lebens am liebsten ausgelöscht, so wie ihr Vater die Worte an der Wand übermalt hatte. »Anna«, hatte er gesagt, »du hast keine Schuld an dem, was dir passiert ist. Lass mich machen, ich erkundige mich.« Er hatte die Unsicherheit in ihrem Gesicht gesehen und schnell gesagt: »Es dauert ein paar Tage, aber du kannst hier bleiben. Es gibt einen Dachboden – es ist nicht schön dort, aber trocken, und eine Couch steht auch dort oben. Du kannst dich einfach ausruhen und wieder zu Kräften kommen.«
    Bleiben. Arbeiten, ohne sich ständig umzusehen, ob jemand hinter ihr her war. Weit weggehen von hier und von Angel. Papiere und einen Pass haben, die ihr gehörten, die sie behalten konnte. Sie spürte, wie sich eine leise Hoffnung in ihr regte. Wenn Matthew sagte, dass er es tun konnte … Vielleicht war es doch nicht zu spät. »Ja«, sagte sie. »Danke.«
    Sheffield, Donnerstagmorgen
    Roz saß um halb neun an ihrem Schreibtisch. Sie hatte vor, den Tag mit der Analyse von Verhören zu verbringen. Die Anpassung an die Software, die sie am Tag zuvor getestet hatte, schien zu funktionieren. Sie konnte auf eigene Faust weiterarbeiten und dann mit Luke sprechen, damit er die Software überprüfte.
    Luke. Sie fragte sich, ob sie ihn anrufen sollte, aber was konnte sie ihm sagen? Sie glaubte nicht, dass er Gemma umgebracht hatte, aber einen Moment hatte sie gezweifelt, und das würde er ihr vielleicht nie verzeihen. Ob sie ihn dazu bringen konnte, sie zu verstehen? Diese Bilder … sie hatten etwas von Luke gezeigt, das sie nie zuvor erlebt und auch nie vermutet hatte. Aber andererseits hatte sie trotz der Warnungen der Ärzte auch nie geglaubt, dass Nathan gewalttätig werden könnte. An dieser Überzeugung hatte sie festgehalten wie an einem Glaubensbekenntnis, und das hatte ihr

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