Nachtengel
trinken gehen, in einer anderen Umgebung.
Schließlich ging sie ins Unicafé, wo man anständigen Espresso und Cappuccino bekam. Sie setzte sich auf einen der Barhocker, und während sie den Zucker umrührte, schirmte sie sich mit ihrer Zeitung ab. Die Nachrichten waren deprimierend. Die Krankenhäuser steckten in der Krise wegen der Grippeepidemie, die Oppositionsparteien waren entzückt. Roz dachte an den anarchistischen Spruch – Geh nicht wählen, die Regierung kommt sowieso ans Ruder. Sie blätterte zur Wissenschaftsbeilage um. Als sie gerade in einen Artikel über aussterbende Sprachen vertieft war, sagte jemand: »Normalerweise treffe ich Sie hier nicht.«
Roz sah auf. Sean Lewis lächelte sie an und hielt eine Tasse Kaffee in der Hand. Roz hatte keine Lust auf Gesellschaft und wollte sich schon gar nicht mit dem Individuum unterhalten, das vielleicht Lukes Stelle bekommen würde. Aber ihr fiel keine gute Ausrede ein. »Oh, hallo«, begrüßte sie ihn nicht gerade begeistert.
Aber mehr Ermutigung brauchte er nicht. Er zog einen Hocker heran und setzte sich neben sie. »Was lesen Sie?«
»Eine Zeitung«, sagte Roz ablehnend, aber dann fand sie, dass sie sich doch ein wenig zu sehr wie Luke verhielt, und fügte hinzu: »Es ist ein Artikel über aussterbende Sprachen.« Sie war froh, dass es ein so spezielles Thema war, schließlich wollte sie kein Gespräch mit ihm führen. Aber zu ihrer Überraschung schien es ihn zu interessieren.
»Das war doch eines von Gemmas Gebieten, oder?«, fragte er. »Tut mir Leid. Sie wollen bestimmt nicht darüber sprechen.«
»Ist schon gut.« Roz wurde klar, dass sie sich mehr oder weniger auf eine Unterhaltung eingelassen hatte. »Ja. Sie hat über eine der russischen Sprachen geforscht.«
»Sie hat mir von ihrem Aufenthalt in Russland erzählt«, sagte er. Er blickte in die Ferne, die Tasse mit beiden Händen haltend. »Sie hat mir ziemlich viel über eure Abteilung erzählt, über eure Arbeitsgebiete«, fuhr er fort und schien etwas zu überlegen. »Kann ich mit Ihnen reden?« Roz zuckte die Schultern, um anzudeuten, dass er das ja schon tue. »Joanna Grey sagte mir, dass in eurer Abteilung eine Stelle für Forschungsaufgaben frei wird – aber ich weiß nicht … Die Sachen, die Gemma gemacht hat, gefielen mir eigentlich … Und ich muss mich neu orientieren«, sagte er. »Ich meine, MIT war etwas anderes …«
»Aber auch ganz schön hart?«, fragte Roz.
»Ach nein! Ich beherrsche das, das ist nicht das Problem. Es war zu einfach.«
Kluges Köpfchen, verzettelt sich aber, diagnostizierte Roz. Sehr klug, wenn ihm seine Doktorarbeit so leicht gefallen war, wie er sagte. Sie hatte dieses Problem schon öfter bei besonders begabten Studenten gesehen, die kein ausgeprägtes Interesse entwickelt hatten und hin- und hergerissen waren zwischen lukrativen, aber einschränkenden Jobs in der Wirtschaft und der Arbeit als Wissenschaftler, die einen mehr ausfüllte, aber verarmen ließ. Sie dachte über etwas anderes nach, das er gesagt hatte. Gemma hatte ihm von ihrer Arbeit erzählt. Vielleicht hatten sie über das Band gesprochen, über die Fragen, die Gemma mit Hilfe des Holbrook-Archivs zu klären versuchte. »Was hat Gemma Ihnen über ihre Arbeit erzählt?«, fragte sie.
»Sie hat von Stimmprofilen gesprochen«, sagte er. »Dass ihr an etwas arbeitet, mit dem man biometrische Merkmale der Stimme darstellen kann, wie bei Fingerabdrücken.«
»Na ja …« Roz war skeptisch. Hier ging es um den heiligen Gral der forensischen Linguistik – die Möglichkeit, ein akustisches Profil einer Stimme aufzuzeichnen, das aussagte: Diese Person, und nur diese Person, kann diese Worte gesprochen haben. Aber bis jetzt hatte die Verschiedenartigkeit der individuellen Stimmen solche Versuche vereitelt. Gemma und Luke hatten ein Interesse daran gehabt, Mittel aufzutreiben, um diese Forschungsrichtung weiterhin verfolgen zu können. Aber Roz meinte, dass die Möglichkeit, etwas zu erstellen, das der Verlässlichkeit von Fingerabdrücken oder DNS-Profilen gleichkam, noch in weiter Ferne lag, wenn es überhaupt machbar war. »Es war eines ihrer Interessen«, sagte sie. Einen Moment trat Stille ein. »Hören Sie zu, Sean«, fuhr Roz fort. »Vielleicht können Sie mir helfen. Ich muss unbedingt wissen, wonach Gemma in Professor Holbrooks Archiv suchte. Hat sie irgendetwas darüber gesagt?«
Er dachte einen Augenblick nach. »Sie wollte nur Zugriff. Sonst sagte sie nichts.«
Roz
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