Nachtfalter
wert ist.«
Sie schleudert mir einen wütenden Blick entgegen, rollt ihre Stickerei zusammen, hebt den Stuhl unter ihrem Hintern in die Höhe und setzt sich damit fünf Meter weiter weg in die Sonne.
In solchen Stunden stört mich ihre Genervtheit überhaupt nicht, weil ich dann endlich meine Ruhe habe. Die Sache mit der unidentifizierten Leiche gefällt mir jedoch ganz und gar nicht. Sollte das Opfer tatsächlich mit einer jungen Frau – möglicherweise sogar einer Griechin – zusammen gesehen worden sein, warum ging sie dann nicht zur Polizei, um das Verschwinden ihres Freundes anzuzeigen? Eine Möglichkeit wäre, daß sie nicht weit von ihrem Freund entfernt verscharrt wurde, ihre Leiche jedoch durch den Erdrutsch nicht freigelegt worden war. Hätte der hünenhafte Deutsche mir das auf der Insel erzählt, hätte ich die ganze Umgebung umgraben lassen, um völlig sicherzugehen. Nun muß ich einen Funkspruch an die Polizeiwache schicken und kann mich nicht darauf verlassen, daß sie sorgfältig graben. Wenn sie nicht gefunden wird, heißt das entweder, sie haben sich getrennt, oder, sie steckt mit dem Täter unter einer Decke, oder aber, sie hat sich aus Angst aus dem Staub gemacht. Ganz schön vertrackt. Und damit noch nicht genug: Ich muß auch noch einen Funkspruch mit den Personalien des Zirkusphilosophen an die deutsche Polizei schicken, damit sie ihn ausfindig macht und für eine zusätzliche Zeugenaussage vorlädt. Und all das, weil es ihm zum Hals raushing, noch weitere zehn Minuten auf der Polizeiwache zu warten.
Während ich mich beim rhythmischen Stampfen des Schiffsmotors in diese Gedanken versenke, nicke ich ein. Ich weiß nicht, wie lang ich geschlafen habe, doch als ich aufwache, hat es zu dämmern begonnen, und ich brauche eine gute Minute, um mir darüber klarzuwerden, daß das Schiff mitten auf dem Meer zum Stillstand gekommen ist. Ich blicke auf Adrianis Stuhl. Er ist leer. Weder der Engländer noch Anita sind auf ihren Plätzen.
Ich erhebe mich, um nach Adriani zu suchen. Ich finde sie in einem Sessel im Aufenthaltsraum, wie sie einen Fünfunddreißigjährigen mit grünem Sakko, braunem Hemd und granatfarbener Hose auf der Mattscheibe verfolgt, der sich mit einer Vierzigjährigen unterhält, die vollkommen in Tränen aufgelöst ist. In einem Fensterchen gibt jemand über eine Live-Schaltung seinen Senf dazu. Rundherum verdichten sich Zigarettenrauch, Gesprächslärm und die Rufe der Kartenspieler, so daß man kein Wort verstehen kann. Doch Adriani hängt völlig gebannt an den Lippen des buntscheckigen Fünfunddreißigjährigen. Ich tippe ihr auf die Schulter, und sie fährt zusammen wie ein erschrecktes Vögelchen. Sie erkennt, daß ich es bin, und wendet ihren Blick wieder der Mattscheibe zu.
»Bist du aufgewacht?«
»Warum haben wir angehalten?«
»Aus technischen Gründen, heißt es.«
»Motorschaden?«
»Was sonst?« wirft ein Weißhaariger neben Adriani dazwischen. »Was kann man anderes erwarten? Das ist mir schon zweimal auf diesem Schrottkahn passiert.«
»Hab ich’s doch gesagt, daß es Unglück bringt, mit einem Toten an Bord zu reisen, aber Sie wollten das ja nicht glauben!« Die Dicke mit der Stretchhose baut sich vor mir auf und triumphiert, weil sich ihre Weissagung erfüllt hat.
Schließlich treffen wir mit dreistündiger Verspätung in Piräus ein. Der Krankenwagen steht schon bereit, der Fahrer und der Sanitäter sind von der Warterei ganz geschlaucht. Ich sorge für die Übergabe der Leiche und reihe mich dann mit Adriani in die Warteschlange am Taxistand ein. Alle fünf Minuten taucht eines am Horizont auf. Einen Verkehrspolizisten gibt es um diese Tageszeit nicht, und die Autos drängen sich ungeordnet und hupend aus dem Schiffsbauch. Wir sind inzwischen an die Spitze der Warteschlange vorgerückt, doch das zählt nicht, denn alle anderen schnappen uns die Taxis vor der Nase weg. Ein Taxifahrer hat gerade ein Ehepaar verstaut und sucht noch zwei zusätzliche Kunden.
»Wohin wollen Sie?« fragt er mich.
»Pangrati.«
»Das kann ich nicht brauchen«, meint er, steigt in sein Taxi und fährt los.
»Warum hast du ihm nicht deinen Dienstausweis gezeigt, damit er uns mitnehmen muß?« sagt Adriani ärgerlich zu mir.
»Bist du verrückt? Damit er mich als Faschisten beschimpft?«
»Na und? Würdest du lieber als Kommunist bezeichnet werden? Die guten alten Zeiten sind endgültig vorbei«, fügt sie hinzu und seufzt.
Faschisten, Kommunisten und Liberale, es gibt
Weitere Kostenlose Bücher