Nachtfalter
sie längst nicht mehr. Mutterseelenallein stehen wir beide da mit unseren drei Koffern und warten darauf, daß uns irgendein verirrtes Taxi aufnimmt.
5
D er Mirafiori erwartet mich genau so, wie ich ihn vor zehn Tagen zurückgelassen habe. Geschlagene fünf Minuten lang ziert er sich, bevor er anspringt, wahrscheinlich weil ich ihn nicht mit in die Ferien genommen habe. Als ich von der Aristokleous- in die Aroni-Straße einbiege, erhebt sich vor mir ein kleiner Hügel, der aussieht wie eine Miniaturausgabe des Lykavittos. Ich steige voll auf die Bremse, und ein alter Mann springt erschrocken zur Seite und schnauzt mich an.
»Sind Sie blind? Wollen Sie mich zum Krüppel fahren?« Er haut mit der Faust auf die Motorhaube.
Jetzt erst erkenne ich, daß mein Wagen nicht vor einem kleinen Hügel zum Stehen gekommen ist, sondern vor einem wahren Gebirge aus Plastiktüten, Bananenschachteln, Pizzakartons, Hundeknochen, Fischgräten und mit Silberpapier aus geschlagenen Fast-food-Behältern. Was auf dem Lykavittos die kleine Kapelle, ist hier eine ausgeleierte Matratze, die den erschöpften Bergsteiger zum Verweilen einlädt.
»Was ist los? Streikt die Müllabfuhr?« frage ich.
»Wo kommen Sie denn her? Aus der EU?«
»Nein, aus dem Urlaub.«
»Na dann, willkommen in Athen«, meint er und dreht mir den Rücken zu.
Auf der Imittos-Straße türmt sich der Müll bis zum Hochparterre. Man öffnet morgens die Fensterläden, und statt sich an Thymianduft zu ergötzen, wie die Vembo in ihrem berühmten Lied, schlägt einem der widerliche Gestank von verfaultem Fleisch und Obst entgegen. Manche haben ihren Müll um die dürren Bäumchen drapiert, die von der Stadtverwaltung gepflanzt wurden, um den Athenern die Illusion schattiger Alleen vorzugaukeln. Der Müll erinnert mich an die Nadeln und Zapfen, die wir um die Kiefern unseres Dorfes als Dünger aufhäuften.
Ich gelange zum Gebäude des Polizeipräsidiums auf dem Alexandras-Boulevard und begebe mich in die dritte Etage, wo sich die Mordkommission befindet. Der Gang ist menschenleer. Bevor ich mein Büro betrete, werfe ich einen raschen Blick in das gegenüberliegende Zimmer, wo die beiden Kriminalobermeister unserer Abteilung, Vlassopoulos und Dermitzakis, sitzen.
»Was, schon aus dem Urlaub zurück, Herr Kommissar?« meint Vlassopoulos. »Sind Sie vor dem Erdbeben geflüchtet, oder hat Sie die Sehnsucht nach uns eingeholt?«
»Ersteres und eine Leiche. Ihr seid mir gar nicht abgegangen. Kommt mit.«
Sie folgen mir in mein Büro und lassen sich auf den beiden Stühlen nieder, während ich mit Markidis, dem Gerichtsmediziner, konferiere.
»Warum rufen Sie mich schon um neun an?« ärgert er sich. »Glauben Sie denn, ich stehe im Morgengrauen auf, um Ihre Leiche zu obduzieren?«
»Wann können Sie mir etwas dazu sagen?«
»Jetzt gleich, aber es wird Ihnen nicht gefallen.«
»Überrascht mich nicht.«
»Wenn Sie vorhatten, den Toten anhand seiner Fingerabdrücke zu identifizieren, haben Sie aufs falsche Pferd gesetzt.«
»Wieso?«
»Weil sämtliche Fingerspitzen verbrannt sind.«
Ich nehme es zur Kenntnis, und meine Hoffnungen sinken gegen den Gefrierpunkt. Wir haben es mit der Leiche eines Unbekannten zu tun, dessen Fingerkuppen unkenntlich gemacht wurden und den man mit einer jungen Frau, deren Personalien nicht feststellbar sind, auf einer Insel gesehen hat. Das wird ja immer schöner.
»Ich habe aber noch eine gute Nachricht für Sie«, höre ich Markidis’ Stimme am anderen Ende sagen. »Ich habe die Spurensicherung verständigt, damit sie ihn fotografieren, bevor ich ihn zerschnipple.«
»Vielen Dank. Sobald Sie auf etwas stoßen, setzen Sie mich bitte davon in Kenntnis.« Ich lege den Hörer auf und erstatte meinen beiden Gehilfen Bericht.
»Andere bringen aus dem Urlaub Honigmandeln und Sesamplätzchen mit – Sie eine Leiche«, meint Vlassopoulos.
Ich enthalte mich jeden Kommentars, wie immer, wenn meine Untergebenen recht haben. »Ruft die Leute von der Spurensicherung an und gebt ihnen Bescheid, sie sollen sich mit den Fotografien beeilen. Und schickt einen Funkspruch an die Polizeiwache der Insel, sie sollen den Berg an der Stelle umgraben, wo der Erdrutsch abgegangen ist, vielleicht stoßen sie auf die Leiche der jungen Begleiterin.«
»Die können graben, bis sie schwarz werden«, meint Dermitzakis.
»Woher willst du das wissen?«
»Das sind doch Urlaubsflirts, ein schneller Fick und tschüs.«
Ich wünsche mir, daß er recht behält. Wir
Weitere Kostenlose Bücher