Nachtfalter
Ausland zu machen gibt, tritt er in Aktion. Von diesen Dienstreisen bringt er verschiedene Namen mit nach Hause, wobei keiner nachprüfen kann, ob sie tatsächliche Bekanntschaften sind oder er die Leute nur vom Hörensagen kennt. Das wahrscheinlichste ist, daß er sie zwar persönlich getroffen hat, sie ihm jedoch keinerlei Bedeutung zumessen und jedes Mal, wenn er sie anruft, verzweifelt in ihrem Gedächtnis kramen, um herauszufinden, wer er denn bloß sei.
»Fangen Sie mit den Vermißtenmeldungen an«, sagt er, als wäre mir das nicht in den Sinn gekommen. »Finden Sie raus, ob die Beschreibung des Opfers auf einen von ihnen paßt.«
»Jawoll. Sobald ich die Fotografien der Vermißten erhalte.«
»Da dieser Fall einige Zeit in Anspruch nehmen wird, habe ich noch etwas anderes für Sie in petto, damit Sie Ihre Zeit nicht ganz umsonst absitzen.«
Er ergreift einen Aktenordner und überreicht ihn mir wie ein Geburtstagsgeschenk. »Die Akte hat die Abteilung für Terrorismusbekämpfung heute morgen rübergeschickt.«
»Was hat denn die Antiterrorabteilung damit zu schaffen?«
»Das Opfer ist ein gewisser Koustas. Ein Unbekannter hat auf dem Athinon-Boulevard mit einer 38er viermal aus nächster Nähe auf ihn gefeuert, als er gerade sein Nachtlokal verließ. Anfänglich hielt man das Ganze für einen Terroranschlag. Dann kam die Abteilung für Terrorismusbekämpfung aber dahinter, daß es sich vermutlich um eine interne Fehde handelt, die nicht in ihren Zuständigkeitsbereich fällt.«
Ich nehme den Aktenordner in Empfang und mache Anstalten, den Raum zu verlassen. »Und … halten Sie mich auf dem laufenden«, ruft er mir noch nach.
»Sowie es etwas für eine Presseerklärung gibt.«
Das ist das einzige, was ihn interessiert: die Journalisten einzuberufen und Erklärungen abzugeben. Im Lift überfällt mich plötzlich ein regelrechter Heißhunger, und mir fällt ein, daß ich meinen morgendlichen Kaffee und mein Croissant vergessen habe. Ich drücke auf den Knopf zur ersten Etage, wo die Kantine liegt.
»Ah, der Herr Kommissar«, meint Aliki hinter der Theke.
Sie überreicht mir mein Croissant in Zellophanhülle. Dann nimmt sie das Briki, gibt zwei Löffel griechischen Kaffee und einen Löffel Zucker in den Kaffeekocher, gießt heißes Wasser aus der Espressomaschine darauf, schüttet alles zusammen in den Mixer und stellt das Gerät an. In Kürze beginnt der Kaffee zu schäumen – wie aus Wut darüber, daß er so zubereitet wird. Aliki gießt meinen Kaffee dann aus dem Mixer in eine Tasse, fügt Kondensmilch aus der Dose hinzu und übergibt ihn mir. Der griechische Mokka, in dem der Löffel steckenbleibt, gehört längst der Vergangenheit an.
»Also dir hat man ihn aufgehalst!« höre ich eine Stimme hinter mir sagen.
Ich drehe mich um und erblicke Stellas, einen der Kommissare aus der Antiterrorabteilung, der auf den Aktenordner unter meinem Arm deutet.
»Worum geht’s dabei eigentlich?«
Er lacht. »Wenn du meine Meinung hören willst: Schieb ihn schnurstracks ins Archiv ab.«
Schon wieder ein Fall, bei dem man mir empfiehlt, ihn umgehend ins Archiv wandern zu lassen. »Zuerst will ich schon noch einen Blick reinwerfen.«
»Daran wirst du dir die Zähne ausbeißen. Eine interne Fehde, ein Begleichen alter Rechnungen zwischen Rotlichtbaronen. Sie haben ihn kaltgemacht und sind abgehauen. Wo willst du die auftreiben!«
»Wenn ich was brauche, ruf ich dich an.«
»Wozu denn? Es ist schon alles gesagt. Der Rest steht in der Akte.«
Ich sitze an meinem Schreibtisch, beiße in das Croissant und öffne den Aktenordner. Vor mir liegt eine Fotografie. Sie zeigt die Steinplatten eines Gehwegs und darauf die mit Kreide gezeichneten Umrisse der Leiche. Offensichtlich wurde er von vorn angeschossen, ist auf den Rücken gestürzt und hat dabei den rechten Arm zur Seite gestreckt. Wie wenn man in der brütenden Julihitze den Arm aus dem Bett hängenläßt. Das rechte Bein ist durchgestreckt, das linke angewinkelt. Neben der Kreidezeichnung sind zwei Autoräder und der untere Teil eines Wagens mit offenstehender Fahrertür zu sehen.
Dann folgen zwei weitere Fotografien, die aus unterschiedlichen Blickwinkeln aufgenommen wurden. Auf der ersten ist der Wagen deutlicher zu erkennen, es handelt sich um einen Wagen mit großem Hubraum, ein Audi oder BMW vielleicht. Die vierte Fotografie schließlich zeigt einen ungefähr fünfundfünfzigjährigen Mann mit dünnem Oberlippenbart, der auf einer Krankenbahre liegt.
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