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Nachtfalter

Nachtfalter

Titel: Nachtfalter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petros Markaris
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dem Staub.
    Ich blicke mich um und sehe Tragbahren, die an der Gangwand aufgereiht stehen, und dazwischen rote Türen. Auf der Bahre mir gegenüber liegt eine alte Frau, nur mehr Haut und Knochen, mit geschlossenen Augen und offenem Mund. Ein Gespenst. Am Kopfende steht eine dürre Vierzigjährige, die mit gleichgültigem und abgestumpftem Blick vor sich hin sieht, wie es auch die Stammgäste auf den Gängen des Polizeipräsidiums tun. Die alte Frau wimmert, und die Dürre beugt sich über sie.
    »Was ist denn, Mama?« sagt sie genervt. Ich weiß nicht, wie sich die Alte verständlich macht, ohne die Lippen zu bewegen, aber sie scheint es hinzukriegen, denn die Dürre meint: »Schon gut, hab Geduld. Wir sind hier nicht die einzigen.« Und sie heftet ihren Blick an die Decke, da nichts anderes ihre Aufmerksamkeit zu fesseln vermag.
    Ich drehe mich zur Seite und blicke auf Adriani, die ein Taschentuch herausgezogen hat und mir den nicht vorhandenen Schweiß von der Stirn tupft. Ich frage mich, wie oft sie es wohl noch ertragen würde, mich hierher zu bringen, ohne mich zum Teufel zu schicken, wie es die Dürre mit ihrer Mutter tut. Mit einem Mal fühle ich mich wie ein willenloses Bündel, das hin und her geschleift wird. Wenn mich jetzt Vlassopoulos oder Dermitzakis verhörten, würde ich ausnahmslos alles gestehen, selbst Taten, die ich gar nicht begangen habe.
    Eine rote Tür geht auf, und ein Ehepaar um die Fünfundvierzig tritt heraus. Adriani läßt mich allein und tritt in den Untersuchungsraum, wobei sie die Tür hinter sich offenläßt. Ich kann zwar nicht verstehen, was sie mit denen da drinnen bespricht, doch es wird mir klar, als ich die Antwort einer männlichen Stimme höre: »Nur keine Sonderwünsche, meine Dame! Er kommt schon dran, wenn er an der Reihe ist.«
    »Stures Pack!« zischt Adriani und wirft die Tür hinter sich ins Schloß.
    Sie kehrt an meine Seite zurück, doch sie weicht meinem Blick aus, als schäme sie sich dafür, daß sie sich nicht durchsetzen konnte. Der Schmerz hat sich auf beide Arme ausgedehnt, und ich finde keine Ruhe auf der Tragbahre. Neben der dürren Vierzigjährigen sitzt ein Sechzigjähriger auf einem Plastikstuhl. Er hockt vornübergebeugt, und aus seiner Nase tröpfelt Blut auf den Fußboden. Der Mann hat seinen Blick auf die Blutlache geheftet – zwar nicht so groß, daß mein Mirafiori darin absaufen würde, aber immerhin schon ein kleiner See. Die beiden Stühle links und rechts von ihm sind leer, denn die Leute in seiner Umgebung weichen vor ihm zurück und ziehen es vor stehenzubleiben.
    Es sind an die zwei Stunden verstrichen, als ich plötzlich laute Rufe, Geschrei, Schluchzen und das Geräusch einer eilig heranrollenden Tragbahre vernehme. Als sie vor mir anlangt, erkenne ich darauf einen unrasierten, schnauzbärtigen Zigeuner. Er trägt eine verblichene, glänzende Sportjacke und zerschlissene Jeans, sein Hemd ist zerfetzt, und oberhalb der Leber klafft eine riesige, blutverschmierte Stichwunde. Er ächzt kaum hörbar vor sich hin. Den nimmt morgen schon die Gerichtsmedizin unter ihre Fittiche, denke ich. Hinter ihm schlagen sich fünf Zigeunerinnen mit geblümten Röcken und Kopftüchern klagend an die Brust, jammern händeringend und versetzen das ganze Krankenhaus durch ihr Geschrei in Aufruhr.
    Die Tür des gegenüberliegenden Untersuchungszimmers öffnet sich, und ein dreißigjähriger Arzt tritt heraus. Er ist großgewachsen, von dunklem Teint und mit lockigem Haar, ein gutaussehender junger Mann.
    »Seien Sie doch ein wenig ruhig«, ruft er den Zigeunerinnen zu. »Wir sind hier in einem Krankenhaus. Wir haben auch noch andere Patienten.«
    Als Adriani ihn erblickt, stürzt sie auf ihn zu. »Ich bitte Sie, Herr Doktor«, sagt sie. »Werfen Sie einen Blick auf meinen Mann. Damit wir zumindest sichergehen können, daß es nichts Ernstes ist.« Sie stellt sich auf die Zehenspitzen und flüstert ihm etwas ins Ohr.
    Der Arzt verharrt einen Augenblick lang unschlüssig, dann richtet er den Blick auf mich. Ich weiß nicht, was er an meinem Anblick so besorgniserregend findet, aber er kommt auf mich zu.
    »Was spüren sie genau?« fragt er.
    »Rückenschmerzen.«
    »Direkt im Rücken oder auch in der Brust?«
    »Keine Ahnung, ob sie vom Rücken ausgehen und bis in die Brust ausstrahlen oder umgekehrt.«
    »Haben Sie sonst noch Schmerzen?«
    »In den Armen. Zunächst wurde der linke gefühllos, jetzt tun mir beide weh.«
    »Ein Unwohlsein im Magen?«
    »Ja. So

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