Nachtflügel
war. Die Rinde musste reichen.
Als er zurückkam, hatte sein Vater die Augen geöffnet, schien aber nichts richtig wahrzunehmen. Südwind und Sylph blickten schweigend auf.
»Ich habe schlecht geführt«, murmelte Ikaron. Seine Flanken hoben und senkten sich beim Atmen.
Dämmer schaute Sylph ängstlich an. Sie sagte nichts.
»Du hast gut geführt«, sagte Dämmer und biss Rindenstücke für sich und Sylph zum Kauen ab. Er war sich nicht sicher, ob ihn sein Vater überhaupt gehört hatte oder ob er immer noch in fiebrigen Träumen verfangen war. Dämmer hatte Angst davor, was sein Vater als Nächstes sagen würde. Wenn Dämmer dann nicht die richtige Antwort einfiel, um ihn zu trösten? Er beeilte sich, die harte, bittere Rinde mit den Zähnen zu bearbeiten und sie zu zermalmen.
»Die Insel hat uns zu weich gemacht«, murmelte ihr Vater. »Für diese neue Welt sind wir schlecht geeignet.«
»Du hast gut für uns alle gesorgt«, versicherte Südwind ihm.
Ikaron grunzte, und Dämmer überlegte, ob das ein Widerspruch war. Doch als ihr Vater wieder etwas sagte, waren seine Gedanken weitergewandert.
»Keineswegs ein Paradies«, nuschelte ihr Vater undeutlich. »Gefährlich, so zu denken.«
»Ruh dich aus«, sagte Dämmer. »Bitte ruh dich aus. Morgen früh wird alles besser sein.«
Es kam ihm lächerlich vor, so etwas zu sagen, kindisch, aber es war das Einzige, was er denken konnte.
»Ich glaube, jetzt ist es gut«, sagte Sylph, schob sich über Ikarons Wunde und ließ den Schleim darauftropfen.
Ikaron zuckte zusammen und schien aus seinem Halbschlaf aufzuwachen. Er drehte sich seiner Tochter zu und fletschte die Zähne, als wäre Sylph ein böswilliger Baumrenner. Schockiert fuhr sie zurück.
»Was ist das?«, verlangte Ikaron zu wissen, reckte den Hals, schmeckte den Schleim und spuckte ihn aus.
»Das ist die Heilrinde, die die Baumrenner benutzt haben«, sagt Sylph. »Wir haben welche gefunden und …«
»Gift!«, sagte ihr Vater. »Versuchen, mich wieder zu vergiften.«
Dämmer konnte Sylphs Blick auffangen und schüttelte den Kopf. Ihr Vater war nicht bei Sinnen. Er lag im Delirium.
»Das hat schon einmal gewirkt, Papa«, sagte er.
Sein Vater wandte sich ihm zu und blickte ihn lange Zeit an, ehe er ihn zu erkennen schien.
»Dämmer«, sagte er.
»Es hat sich wieder entzündet«, sagte Dämmer. »Vielleicht hilft das.«
»Nein«, sagte sein Vater.
»Papa …«
»Nein! Ich will das nicht. Das ist Gift.« Die Bewegungen schienen ihn erschöpft zu haben und er sank zurück auf den Ast.
»Er ist wieder eingeschlafen«, sagte Südwind kurz darauf. »Macht es jetzt.«
Sylph und Dämmer krochen vor und träufelten ihre Paste auf die Wunde. Ihr Vater zuckte und murmelte etwas, dann atmete er geräuschvoll aus. Obwohl es eine warme Nacht war, fing er nun auch noch an zu zittern. Dämmer legte sich dicht neben ihn, Sylph kuschelte sich an die andere Seite.
»Mehr kann man jetzt nicht tun«, sagte Südwind. »Holt mich, wenn er wieder aufwacht.« Er nickte ihnen anerkennend zu. »Ihr beide seid sehr tüchtig.«
Dämmer beobachtete, wie Südwind zu seiner Familie zurückkehrte. Er hätte jetzt gerne einen älteren Bruder neben sich gehabt und fühlte sich verlassen. Er schloss die Augen, kniff sie fest zusammen und flüsterte seinem Vater ins Ohr: »Ruh dich aus. Morgen geht es dir besser.«
Irgendetwas kratzte an der Rinde. Erschrocken öffnete Dämmer die Augen. Sein Vater lag nicht mehr neben ihm.
Am Himmel fing die Dunkelheit gerade an zu verblassen. Sein Vater schleppte sich über den Ast dahin. Schnell weckte Dämmer Sylph auf und sie krabbelten hinter ihm her. Die Augen ihres Vaters waren nicht länger matt und verwirrt, sondern zeigten eine klare Entschlossenheit.
»Papa, komm zurück und ruh dich aus«, sagte Dämmer, obwohl er instinktiv wusste, was sein Vater tat und wohin er wollte. Er spürte, wie seine Kehle sich zusammenzog.
»Wecke Südwind!«, flüsterte er Sylph zu.
»Das ist nicht nötig«, sagte ihr Vater ruhig.
»Geh und hol noch was von der Rinde«, drängte Sylph Dämmer.
»Nein«, sagte Ikaron.
Er wechselte jetzt zum nächsten Baum, ging weiter und suchte nach entfernteren Ästen.
»Geh nicht«, sagte Dämmer. Das waren die einzigen Worte, die er aus dem Tumult in seinem Kopf zu fassen bekam. Ikaron blieb stehen und blickte zu seinem Sohn zurück.
»Ich muss gehen.«
Dämmer wusste, dass das bei allen Lebewesen so war. Ein bestimmter Instinkt, der sie von den Lebenden
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