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Nachtflügel

Nachtflügel

Titel: Nachtflügel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kenneth Oppel
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verraten.«
    »Wie kannst du so etwas sagen?«, wollte Dämmer wissen.
    »Er hat seine eigenen Gesetze gebrochen. Er hat die Eier getötet. Verstehst du nicht, was das heißt? Er war die ganze Zeit im Unrecht. Als es darauf ankam, hat er die Eier getötet … Weil er wusste, dass es das Richtige war. Und er hat es nicht einmal zugeben können!«
    »Er hat sich geschämt, Sylph.«
    »Nein, er war zu stolz. Er hat gewollt, dass alle denken, er wäre der vollkommene, edle Anführer. Er hat nie zugeben können, dass er im Unrecht war. Er hat es lieber geheim gehalten und alle angelogen. Und er hat ein neues Zuhause bei Gyrokus ausgeschlagen und seine ganze Kolonie damit ins Unglück gestürzt.«
    »Er hat einen Fehler begangen. Einen Fehler vor zwanzig Jahren! Das heißt doch nicht, dass seine Überzeugung falsch war.«
    Sylph seufzte. »Ich frage mich, was Nova wohl davon halten würde.«
    »Das darfst du ihr nie erzählen, Sylph, bitte.«
    »Du bist genauso schlimm wie er. Alles geheim halten. Aber was spielt das jetzt noch für eine Rolle.« Unglücklich blickte sie auf den Körper ihres Vaters.
    »Papa war ein guter Anführer. Er hat sein Bestes versucht. Wenn du es Nova erzählst, verdreht sie alles, und dann werden sie …«
    »… alle schlecht von ihm denken?«
    »Ja. Und sie wären im Unrecht.«
    »Gut«, knurrte sie vor sich hin. »Ich erzähle nichts. Aber du musst mir versprechen, dass du keine Geheimnisse mehr vor mir haben wirst.«
    »Das verspreche ich. Wir müssen gegenseitig auf uns aufpassen. Lass uns einen Pakt schließen: Wir beschützen uns gegenseitig. Immer. In Ordnung?«
    »In Ordnung«, sagte sie nach kurzem Zögern. »Aber ich wünschte, ich könnte auch fliegen.«
    »Das wünschte ich auch«, sagte Dämmer. »Ganz ehrlich.«
    Sie wollten nicht sofort zur Kolonie zurückkehren, und als der Morgengesang der Vögel kräftiger wurde, fingen sie an, sich gegenseitig zu säubern. Sie sprachen dabei nicht, doch in ihren Köpfen hallten Erinnerungen an glücklichere Tage wider.
    »Wo ist euer Vater?«, fragte Nova, als sie schließlich zu ihrem Baum zurückkehrten.
    »Kurz vor der Morgendämmerung ist er gestorben«, berichtete Dämmer ihr.
    Er hatte erwartet, in ihren Augen grimmige Genugtuung aufleuchten zu sehen, und war überrascht von der aufrichtigen Betroffenheit, die er darin erkannte. Sol und Barat verstummten. Chiropter, die sich in der Nähe aufhielten, hatten es mitbekommen, und innerhalb von Sekunden konnte Dämmer hören, wie die Nachricht durch die Äste getragen wurde.
    »Das ist eine schreckliche Nachricht für uns alle«, sagte Sol.
    »Wir werden weitermachen«, sagte Nova. »Wenn ein Anführer stirbt, steigt ein anderer auf.«
    »Das muss dann Ikarons Ältester sein«, sagte Barat.
    Immer mehr Chiropter versammelten sich um sie. Auf den Ästen wurde es eng. Südwind kämpfte sich durch die Menge.
    »Stimmt es?«, fragte er verwirrt. »Ist er tot?«
    »Die Führung muss jetzt auf dich übergehen, Südwind«, sagte Sol.
    »Es könnte ja sein«, merkte Nova an, »dass Südwind in solch außergewöhnlichen Zeiten die Rolle des Anführers nicht übernehmen möchte.«
    »Die Regel ist nun aber einmal so«, sagte Barat entschieden. »Die Führung wird an den ältesten Nachkommen weitergegeben. Wenn es keinen Ältesten gibt, geht sie an die Älteste über.«
    »Völlig richtig«, sagte Nova. »Doch jetzt ist alles anders. Wir sind heimatlos und befinden uns in einer keineswegs freundlichen Welt. Niemand hier hat jemals einen Fuß auf das Festland gesetzt außer uns, die wir es vor zwanzig Jahren verlassen haben. Und von denen bin ich die Älteste.«
    Sol lachte ungläubig auf. »Willst du damit sagen, dass du unsere neue Anführerin sein solltest, Nova?«
    Dämmers Herz schlug schneller. Er hatte das Gefühl, einen Albtraum mitzuerleben, doch er war zu machtlos, sich zu erheben und ihn zu beenden.
    »Ich sage ja nur«, fuhr Nova fort, »dass wir am besten von jemandem geführt werden sollten, der Erfahrung hat. Der sich an das Festland und die Lebewesen erinnert, die dort leben.«
    Wütend blickte Dämmer zu Sylph hinüber, sah aber, dass sie zustimmend nickte. Wie konnte sie so untreu sein? Nova hatte ihren Vater bei jeder Gelegenheit kritisiert. Sie hatte seine Position seit Jahren begehrt, und jetzt, nur Stunden nach seinem Tod, versuchte sie, seiner Familie die Macht zu entreißen.
    Dämmer drehte sich um zu Südwind und sah sowohl Empörung als auch Verunsicherung in seinem

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