Nachtflügel
Bemerkung seiner Schwester zusammen.
»Nein, Dämmer hat recht«, sagte ihr Vater leise. »Du musst ihn nicht so zurechtweisen, Sylph.«
Sylph sackte sichtbar in sich zusammen und Dämmer sah kurz die alte Verbitterung in ihren Augen aufflammen.
»Was ich getan habe, war ein schrecklicher Verrat an meiner eigenen Überzeugung«, sagte ihr Vater schuldbewusst. »Doch ich habe es nun einmal getan und das macht mich zum Heuchler. Und was es noch schlimmer macht, ich habe meine Tat nicht einmal bereut, obwohl ich gewusst habe, dass es falsch war.« Er nickte Dämmer traurig zu. »Wenn du einmal eigene Kinder hast, wirst du das vielleicht verstehen und mir vergeben.«
Seine Augen waren flehentlich auf Dämmer gerichtet, und Dämmer wollte ihm helfen, war sich aber nicht sicher, wie, so überwältigt war er von dem Wirbel der Gedanken in seinem Kopf. Und seine Kehle hätte sowieso kaum ein Wort herausgelassen.
»Papa, das ist schon in Ordnung«, flüsterte er schließlich. »Du hast gut für uns gesorgt.«
Ikarons Flanken hoben und senkten sich schnell und er nickte. Sein Atem roch so fremdartig, dass sich Dämmer instinktiv abwenden wollte.
»Ich will nicht, dass du stirbst«, wimmerte Sylph.
Verwundert sah Dämmer, wie Sylph ihren Kopf gegen den ihres Vaters drückte und hilflos zitterte. »Wir haben dann doch niemanden mehr.«
»Ihr habt euch gegenseitig«, sagte Ikaron mit überraschender Strenge. »Du«, sagte er und blickte Sylph an, »bist mutig und stark.« Dämmer meinte, seinen Vater dabei leise lachen zu hören. »Du magst vielleicht andere in den Tod treiben, aber du wirst leben. Und du«, sagte er zu Dämmer, »musst der Kolonie helfen, ein neues Zuhause zu finden. Fliege hoch! Blicke weit!«
»Das werde ich«, sagte Dämmer.
Nachdem sie sich so endgültig verabschiedet hatten, wäre jedes weitere Wort nur unwichtig und vollkommen unangemessen gewesen. Ihr Vater sagte danach nichts mehr zu ihnen. Dennoch wollten sie ihn nicht verlassen und erst, als er seine Zähnen zeigte und schwach nach ihnen schnappte, krabbelten sie ein Stück zurück. Doch weiter würde Dämmer sich nicht zurückziehen.
Ikaron drehte ihnen den Rücken zu. Er sah aus wie ein in die Rinde gebetteter Neugeborener.
Gelegentlich lief ein Schauer durch seinen Körper, und Dämmer hörte, wie sein Vater vor sich hinmurmelte. Dann merkte er, dass er die Namen seiner Kinder aufsagte, vom ersten bis zum letzten. Das Pfeifen seines Atems wurde matter. Dämmer wollte näher kommen, neben ihm liegen und ihn am Ende seines Lebens nicht allein lassen, doch irgendetwas hielt ihn davon ab. Der Tod seines Vaters schwebte um ihn herum, und Dämmer fürchtete, wenn er zu nahe käme, würde er in dessen Schwingen eingehüllt und davongetragen. Er empfand sich als Feigling, nutzlos und alleine. Er sah zu und wartete. Und gerade, als er dachte, die Nacht würde nie enden, hörte er die ersten Töne des Morgenlieds der Vögel.
»Ist er tot?«, fragte Sylph.
»Ich weiß es nicht.« Zögernd bewegte er sich vorwärts an die rechte Seite seines Vaters und berührte mit dem Segel das Fell. Es war kalt.
»Papa«, flüsterte er in sein Ohr.
Keine Antwort, keine Bewegung. Die Augen seines Vaters waren halb geöffnet, aber blicklos.
»Er ist tot«, sagte Dämmer.
Sylph kauerte sich auf dem Ast zusammen, als müsste sie sich gegen einen starken Wind stemmen.
»Wir sind Waisen«, sagte sie.
Lange Zeit schwiegen beide. Dämmer war wie benommen und leer. Jetzt hatte er keine Angst mehr vor Diatrymas und Feliden: Das Schlimmste in seinem Leben war bereits geschehen. Was könnte ihn da noch schrecken?
Die ersten Insekten ließen sich schon auf Ikarons Körper nieder, und Sylph krabbelte näher, um sie zornig mit ihren Segeln zu verscheuchen. Es war sinnlos. Die Fliegen kamen in immer größerer Zahl, setzten sich um seine Nasenlöcher und auf die ausdruckslosen verschleierten Augen. Dämmer wollte seinen Vater so nicht sehen.
»Komm, Sylph, wir sollten gehen.«
Wütend schlug sie weiter nach den Fliegen.
»Sylph!«, sagte er scharf und zerrte an ihr mit seinen Krallen.
»Er hat immer nur dich geschätzt«, schrie sie. »Seine Augen waren immer nur auf dich gerichtet. Ich hab ihn nie stolz machen können. Aber du mit deinen blöden missratenen Segeln, die hatten ihm viel mehr bedeutet!«
Dämmer seufzte. Er konnte ihre Wut ebenso wenig eindämmen wie eine Sturmbö.
»Aber was kümmert mich das eigentlich?«, sagte sie düster. »Er hat uns alle
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