Nachtflügel
Dämmer. An dieses Problem hatte er überhaupt nicht gedacht, er war wegen der Bäume in der Ferne viel zu aufgeregt gewesen. Aber Barat hatte natürlich recht. Auf der Grasebene gab es nur wenige Bäume und die Abstände zwischen ihnen waren groß. Sie müssten den größten Teil des Wegs auf dem Erdboden zurücklegen. Er hatte nur an sich selbst gedacht als an jemanden, der fliegen konnte. Er erwartete von Nova eine Zurechtweisung.
»Das gefällt mir gar nicht«, sagte Südwind. »Am Boden sind wir bei einem Angriff zu verletzlich. Ich meine, wir sollten eine andere Route wählen.«
»Aber wenn die Bäume ideal sind«, fing Nova an, »dann wäre die Wanderung das Risiko wert.«
Dämmer sah sie überrascht an.
»Deine Fähigkeiten sind ein großer Gewinn für uns«, sagte sie zu ihm und er empfand ganz unerwartet Dankbarkeit und Freude über diese Anerkennung.
»Innerhalb von Stunden kannst du eine Entfernung zurücklegen, die uns Tage und Nächte kosten würde«, fuhr Nova fort. Sie schien etwas zu überlegen. »Diese hohen Bäume, die du gesehen hast – fliege dorthin und sieh nach, ob sie tatsächlich ein Zuhause für uns sein können.«
»Wirklich?«, fragte Dämmer begeistert, doch mit einem Hauch von Beklommenheit.
»Bist du kräftig genug für einen solchen Flug?«, fragte Nova.
»Ja«, sagte er mit nur einem Moment des Zögerns. Er war noch nie so weit geflogen oder so weit von der Kolonie entfernt gewesen. »Natürlich bin ich kräftig genug.«
»Vergewissere dich, dass diese Bäume sicher sind und dass keine anderen Tiere bereits Anspruch darauf erheben«, wies ihn Nova an. »Sieh dir alles genau an, besonders das Grasland. Finde heraus, welche Arten von Tieren dort herumstöbern und ob es da Raubtiere gibt.«
»Wie lange wirst du dafür brauchen?«, fragte Sol.
Dämmer rief sich den Ausblick aus großer Höhe wieder ins Gedächtnis und versuchte, die Entfernungen abzuschätzen. »Wenn ich jetzt aufbreche, könnte ich es bis zum Anbruch der Nacht schaffen, denke ich. Und dann wäre ich morgen gegen Abend zurück.«
»Gut. Wir warten hier auf dich. Für den Augenblick scheint dieser Wald hier ausreichend sicher zu sein.«
»Der Plan klingt sehr gut«, sagte Barat.
»Bist du sicher, dass du das auch machen willst?«, fragte Südwind freundlich.
Dämmer nickte.
»Dann geh«, sagte Nova. »Und bring uns gute Nachrichten zurück.«
Er fand Sylph beim Jagen. »Ich breche jetzt auf«, erzählte er ihr aufgeregt und beschrieb die Bäume, die er aus der Höhe gesehen hatte. »Ich habe sie schon vorher mal gesehen«, fügte er zögernd hinzu, weil er versprochen hatte, keine Geheimnisse mehr vor ihr zu haben. Dann erzählte er von seiner Pilzvision und dem späteren Traum. »Ich glaube, dass es dieselben Bäume sind, Sylph. Denkst du jetzt, dass ich verrückt bin?«
»Ich weiß nicht.«
»Sie werden unser neues Zuhause. Das weiß ich einfach.«
Sie nickte. »Wie weit ist es?«
»Ich denke, morgen Abend bin ich zurück.«
Sylph ließ sich auf die Rinde sinken. »Ich wünschte, ich könnte mitkommen.«
»Das wünschte ich auch. Ich …« Seine Stimme verebbte.
»Was?«, fragte Sylph.
Er senkte die Stimme. »Ich traue ihr nicht.«
»Nova?«
Dämmer nickte. »Sie hat immer gedacht, dass ich mit meinem Fliegen ein großes Probleme für die Kolonie wäre. Und dass deshalb Aeolus von den Vögeln ermordet worden ist.«
»Gib ihr eine Chance«, sagte Sylph. »Sie ist klug. Ich vertraue ihr. Ich weiß, du hast immer auf Papas Seite gestanden, aber Papa war nicht immer nur ein guter Anführer – jetzt lass mich mal ausreden. Er hätte der Kolonie von den Feliden erzählen müssen, nachdem der Vogel dich gewarnt hat, aber er hat es nicht getan. Und er hat es zugelassen, dass die Baumrenner beinahe aus uns ein Festmahl gemacht hätten.«
»Niemand hatte sie in Verdacht«, sagte Dämmer. »Ich hab auch Nova nichts sagen hören! Sie dachte auch, wir hätten ein neues Zuhause gefunden.«
»Mag sein. Aber wir haben ein Viertel der Kolonie verloren. Hätte er andere Entscheidungen getroffen, wäre es nicht so weit gekommen.«
»Er hat so gut entschieden, wie er konnte«, sagte Dämmer hartnäckig.
Sylph zwitscherte aufgebracht. »Nova wird jedenfalls eine gute Anführerin sein.«
Dämmer seufzte. »Vielleicht hast du recht. Ich wünschte jedenfalls, du könntest mit mir kommen.«
»Es ist nur für eine Nacht, oder?«
»Wahrscheinlich.« Es würde das erste Mal sein, dass er eine ganze Nacht lang
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