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Nachtflügel

Nachtflügel

Titel: Nachtflügel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kenneth Oppel
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doch nicht? Oder vielleicht doch? Vielleicht gewannen Worte, wenn sie einmal gedacht oder laut ausgesprochen worden waren, eine gewisse Macht über die Dinge, sodass sie dauerhaft wurden.
    Jetzt, so kurz bevor er seiner Kolonie gegenübertreten würde, verließ ihn der Mut. Wie sollte er den anderen von Chimera erzählen? Wie sollte er erklären, dass er vielleicht überhaupt kein Chiropter war, sondern jemand, der als Fleder bezeichnet wurde? Wenn sie ihn vorher für missgebildet gehalten hatten, was würden sie dann jetzt von ihm denken?
    Er hatte nie vergessen, was Jib damals auf der Insel zu ihm gesagt hatte, dass er nur wegen seines Vaters nicht davongejagt worden sei. Würde Nova das jetzt nicht allen Grund geben, besonders da sein Vater nicht mehr lebte? Doch vielleicht war sie jetzt auch so angetan von ihm, weil er ein neues Zuhause gefunden hatte, dass sie seine Andersartigkeit übersah. Er hatte der Kolonie gut gedient. Nach dem, was alles passiert war, konnten sie ihn nicht ausstoßen. Und außerdem, wenn sie den neuen Baum erreichten, würde Südwind ja Anführer sein und nicht mehr Nova – und sein eigener Bruder würde ihn niemals verbannen.
    Du hast dich nicht verändert , versuchte er sich zu beruhigen. Du bist der, der du immer warst .
    Doch er war immer anders gewesen. Und jetzt wusste er, dass es noch andere gab wie ihn. Das tröstete ihn zwar, machte ihm zugleich aber auch Angst. Das hieß, dass er tatsächlich unleugbar zu einer neuen Art von Lebewesen gehörte. Er beschloss, erst einmal nur Sylph davon zu erzählen. Später dann, wenn die Dinge etwas zur Ruhe gekommen waren, würde er dem Rest der Kolonie berichten.
    Da war die Stelle. Er erinnerte sich an den hohen Baum mit der vom Blitz verkohlten Krone. Er tauchte unter das Blätterdach und kurvte geschickt um die Äste.
    »Ich bin es, Dämmer! Hallo! Ich bin zurück!«
    Das Einzige, was ihn begrüßte, waren die üblichen Geräusche der Dämmerung: das Trällern und Zwitschern der Vögel und das anschwellende Dröhnen der Insekten.
    »Hallo! Ich hab gute Nachrichten! Südwind? Sylph?«
    Alle Äste waren leer.

Kapitel 20
Verlassen
    A n der Rinde hing noch der Duft seiner Kolonie, schwach, aber eindeutig – der Duft, mit dem er aufgewachsen war. Als er ihn jetzt roch, ohne dass ein einziger Chiropter in Sicht war, stieg ein erdrückendes Gefühl von Verlassenheit in ihm auf.
    Nova hatte gesagt, sie würden warten. Sylph hatte es versprochen.
    Er kämpfte seine Panik nieder. Vielleicht waren sie ja nur ein kleines Stück auf der Jagd weitergezogen. Oder sie hatten vielleicht eine bessere Baumgruppe gefunden. Er flog in ständig größer werdenden Kreisen umher und rief immer wieder nach seiner Kolonie. Es kam keine Antwort.
    Völlig außer Atem brach er auf einem Ast zusammen. Welchen Weg hatten sie eingeschlagen? Er konnte schneller fliegen als sie gleiten, doch woher sollte er wissen, in welche Richtung? Und selbst wenn er sie fand, was war eigentlich los?
    Trotz allem, was ihm und seiner Familie passiert war, war er doch noch niemals mutlos gewesen. Doch nun war er von seiner eigenen Kolonie fallen gelassen worden. Nova hatte ihn reingelegt. Sie hatte nie die Absicht gehabt, zu dem fernen Baum zu reisen, den er entdeckt hatte. Sie wollte ihn lediglich loshaben. Wahrscheinlich hatte sie gehofft, dass er unterwegs getötet würde.
    Er konnte einfach nicht aufhören zu wimmern und musste dabei kleine Klangimpulse ausgestoßen haben, denn mit seinem inneren Auge sah er kleine, leuchtende Schallsignale auf den leeren Äste um ihn herum. Dieser Anblick steigerte seine Verzweiflung noch. Nichts als Leere. Niemand da.
    Außer …
    Irgendetwas flimmerte an den Rändern seiner Echosicht.
    Er machte die Augen auf und wirbelte hoffnungsvoll herum.
    Mit starrem Blick und weit aufgerissenem Maul rannte ein Felid auf dem Ast auf ihn zu und setzte zum Sprung an.
    Dämmer warf sich vom Ast, der Felid sprang hinterher. Dämmer spürte die wilde Hitze seines Atems an Schwanz und Beinen, öffnete die Flügel, schlug wie wild mit ihnen und gewann Höhe. Als er nach unten blickte, sah er, wie der Felid, mit seinem Schwanz durch die Luft steuernd, auf einem Ast landete. Er fauchte und knurrte zu ihm hinauf.
    Dämmer blieb in der Luft und suchte die Umgebung ab. Er wusste, wie die Feliden jagten, und wollte in keine neue Todeszone getrieben werden. Doch sein fieberhaft umherschweifender Blick zeigte ihm keine weiteren Raubtiere. Er landete weit oben, von wo aus

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