Nachtflügel
nicht«, sagte er und war erstaunt, wie einfach sie ihn zu vereinnahmen schien. »Ich muss zurück und meiner Kolonie von dem Baum hier berichten. Das ist doch nicht eurer, oder?«
»Nein.«
Dämmer stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.
»Wo ist deine Kolonie?«, wollte Chimera wissen.
»Auf der anderen Seite des Graslands. Da warten sie auf mich.«
»Aber wie wollen sie rüberkommen?«
»Hauptsächlich am Boden.«
Sie schüttelte den Kopf. »Das dauert sehr lange. Sie werden gejagt werden. Hast du die Diatrymas gesehen?«
»Ja. Aber wir sind klein. Wir können uns verstecken. Wir können bei Nacht wandern.«
Sie seufzte. »Sie sind dann alle in schrecklicher Gefahr und du mit ihnen.«
»Ja, aber es geht nicht anders« sagte Dämmer. »Ich werde sie hierherbringen. Lebst du weit von hier weg?«
»Gleich auf der anderen Seite des Bergs. Siehst du die drei Sterne da? Folge ihnen und du findest uns.«
Freude durchzuckte ihn. Es tat so gut, mit jemandem zu reden, der so war wie er.
»Ihr zieht doch nicht irgendwo anders hin?«, fragte er eindringlich.
Sie lachte. »Nein. Wir bleiben, wo wir sind.«
»Dann finde ich dich, wenn ich zurückkomme.«
»Das hoffe ich. Viel Glück!«
Er war ein bisschen verzweifelt, als er sie abfliegen sah. Ein Teil von ihm wollte aufschreien, ihr folgen. Doch seine eigene Kolonie war auf der anderen Seite des Graslands und er musste sie erst hierherbringen.
Die Sonne hatte gerade den östlichen Horizont erhellt und tauchte nun seinen Baum in rotes Licht. Er umkreiste ihn immer wieder. Er war gewaltig, hatte viele Äste, und seine Rinde verbreitete einen angenehmen Duft, der ihn an die Insel erinnerte. Er konnte keine anderen Lebewesen auf den mächtigen Ästen und Zweigen entdecken, und obwohl das Morgenlied der Vögel begann, in den Himmel aufzusteigen, bemerkte er keine Nester im oberen Bereich. Der Baum schien geradezu auf ihn zu warten. Er tauchte ab, um den unteren Bereich zu begutachten. Der Stamm ragte mindestens zwölf Meter auf, ehe die ersten Äste begannen. Selbst für einen schlauen Feliden wie Reißzahn gab es keine Möglichkeit, einen solchen Baumstamm zu erklimmen, zumal die Rinde etwas härter und glatter war als die des Mammutbaums.
Mit wachsender Vorfreude flog Dämmer zwischen den umstehenden Bäumen hindurch. Es waren rund ein Dutzend, und auch sie ragten hoch auf, bevor die ersten Äste kamen. Die Luft zwischen ihnen war bis zum Überfluss voll mit Insekten. Gab es einen benachbarten Baum, den die Feliden als Brücke nutzen konnten? Dämmer flog hoch über die Baumkronen, blickte direkt nach unten und schätzte die Abstände zwischen den Ästen ab. Der nächste war ungefähr sieben Meter entfernt und das war mit Sicherheit auch für den geschicktesten Feliden zu weit für einen Sprung.
Er landete. Die Aussicht war unglaublich. Von hier aus konnte er weit über das Grasland blicken, bis hin zu dem Wald, wo seine Kolonie auf ihn wartete.
Er hatte den vollkommenen Baum, das vollkommene Zuhause gefunden. Er wünschte sich, dass seine Eltern das noch hätten erleben können.
Dämmer breitete seine Segel aus und betrachtete sie aufmerksam. Flügel. Er schloss die Augen, sang Klang über sie hinweg und sah, wie sie in seinem Kopf silbern aufflammten und seine Haut glitzerte wie das Meer. Er versuchte, sie als etwas ganz Normales zu empfinden und nicht als missgebildet.
Fleder .
So hatte sie sich selbst genannt – und ihn. Er sträubte sich gegen diese Bezeichnung. Sein ganzes Laben lang hatte er sich für einen Chiropter gehalten. Wenn man das wegnahm, nahm man dann nicht auch einen Teil dessen weg, was ihn ausmachte? Wäre das nicht genauso, als wenn man sagte, er sei nicht mehr Ikarons Sohn?
Er dachte an Sylph und die anderen aus seiner Kolonie, die sich auf ihn verließen, und brach sofort auf, ganz erpicht darauf, als Überbringer guter Nachrichten zurückzukehren.
Fast während des ganzen Rückwegs musste er gegen einen stetigen Wind ankämpfen, und es wurde bereits dunkel, als er sich dem Wald näherte, in dem er seine Kolonie zurückgelassen hatte. Die Erschöpfung hatte seine Flügel schwer werden lassen. Er rümpfte über sich selbst die Nase: Er hatte automatisch Flügel statt Segel gedacht. Die beiden Wörter hatten den ganzen Weg über beständig in seinem Kopf nachgehallt, als würden sie miteinander um die Vormacht kämpfen. Er fand es ein bisschen erschreckend, wie leicht ihm das neue Wort fiel. Aber Wörter veränderten die Dinge
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