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Nachtflügel

Nachtflügel

Titel: Nachtflügel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kenneth Oppel
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er eine gute Sicht auf den Feliden hatte. Und dann erkannte er ihn.
    »Reißzahn«, sagte er.
    Die Ohren des Feliden zuckten. »Ich kann es nicht leiden, wenn mein Fressen mit mir spricht«, knurrte er.
    »Ich bin nicht dein Fressen«, sagte Dämmer entrüstet und suchte weiter die Umgebung ab, falls das eine Falle war.
    »Du bist der, der fliegen kann«, sagte Reißzahn und lief auf dem Ast auf und ab. »Von der Insel.«
    »Wie bist du von ihr runtergekommen?«, platzte Dämmer heraus.
    Reißzahn schnurrte selbstgefällig. »Ach, du hast also gehört, dass sie mich dort festsetzen wollten. Die Soldaten waren der Aufgabe aber nicht gewachsen. Die Insel hat mir nicht länger gefallen, also sind wir da weg.«
    Dämmer schwieg, er war völlig überrascht – aber plötzlich auch voller Hoffnung. Wenn die Feliden die Insel verlassen hatten, hieß das ja, dass sich die Chiropter vielleicht dort wieder niederlassen konnten.
    Sie konnten nach Hause!
    »Wenn du daran denkst, wieder dorthin zurückzukehren, habe ich traurige Nachrichten für dich«, sagte Reißzahn. »Eine neue Sorte Raubvögel hat eure Insel in Besitz genommen.«
    »Diatrymas?«, fragte Dämmer mit einem Schauder.
    »Nein, das waren Flieger, boshaft und sehr stark, mit Federn und Schnäbeln, die leicht einen von meiner Art töten können.«
    Dämmers Hoffnung verflog. Wenn diese Vögel raubgierig genug waren, die Feliden zu vertreiben, würde es für die Chiropter kaum sicher sein.
    »Sind es viele?«, fragte er.
    »Sehr viele. Euch würden sie sofort abschlachten.«
    Dämmer seufzte erbittert. »Genau, wie du es getan hast.«
    »Natürlich hab ich das getan. Das liegt nun mal in meiner Natur.«
    »Nicht alle Feliden sind Fleischfresser.«
    »Nicht alle Chiropter können fliegen. Was von beidem ist unnatürlicher?«
    Einen Augenblick lang wusste Dämmer nicht, was er darauf sagen sollte. »Was ich mache, schadet niemandem«, erwiderte er dann, doch er musste dabei an Aeolus denken, den die Vögel ermordet hatten.
    Reißzahn streckte sich auf dem Ast aus. Seine Gier auf Beute war anscheinend verflogen.
    »Über kurz oder lang wirst du dich auch dem Fleisch zuwenden.«
    »Nein«, sagte Dämmer.
    »Wir Feliden sind nicht die einzigen Tiere, die das getan haben.« Reißzahn schnüffelte und schmeckte die Luft. »Wo ist deine Kolonie?«
    »Sie haben mich verlassen«, sagte Dämmer. Er sah keinen Anlass zu lügen. »Sie glauben, sie würden ohne mich mehr Chancen haben, ein neues Zuhause zu finden. Sie haben entschieden, dass ich eine Missgeburt bin.«
    »Interessant«, sagte Reißzahn, »Dass wir beide wegen unserer natürlichen Bedürfnisse verbannt worden sind, einfach dafür, dass wir sind, wie wir sind.«
    Dämmer gefiel es überhaupt nicht, irgendetwas mit dieser Kreatur gemeinsam zu haben.
    »Wo ist deine Meute?«, fragte er und empfand aufs Neue, wie ungeheuerlich es eigentlich war, mit diesem Monster zu reden. Reißzahn hatte seine Mutter ermordet und seinem Vater die Wunde zugefügt, an der er ziemlich sicher gestorben war. Trotzdem waren sie nun hier, eingehüllt in die aufkommende Nacht und mit einem sicheren Abstand zwischen sich: die Beute und der Beutejäger.
    »Weit weg«, sagte Reißzahn. »Ich ziehe vorübergehend mit anderen Verbündeten.«
    »Was für Verbündeten?«, fragte Dämmer und sein Magen zog sich zusammen.
    »Fleischfresser, viel größer als ich selbst. Sieh mal da unten.«
    Dämmer folgte Reißzahns Blick durch die Äste hindurch auf den Waldboden. Ein riesiges, vierfüßiges Tier hatte sich gerade auf einen kreischenden Grundling gestürzt und riss sein Fleisch.
    »Hyaenodonten«, sagte Reißzahn. »Verstehst du, es gibt auch noch andere Tiere, die Fleisch fressen. Aber wegen denen brauchst du dir keine Sorgen zu machen, sie sind Grundlinge. Bleib in den Bäumen und dir passiert nichts.«
    Dämmer ärgerte sich über Reißzahns beruhigenden Tonfall. Er glaubte nicht eine Sekunde lang daran, dass dieser Felid sich auch nur im Entferntesten um sein Wohlergehen Gedanken machte. Doch es war, als hätten sie stillschweigend eine kurze Waffenruhe vereinbart.
    Als er erneut sprach, flüsterte Reißzahn verschwörerisch, als wollte er nicht, dass die Hyaenodonten ihn hörten.
    »Das hier ist keine vollkommene Welt«, sagte er und erinnerte damit Dämmer schmerzlich an das, was sein Vater kurz vor seinem Tod gesagt hatte. »Es gibt keine Heimat, die vor Räubern sicher ist. Es wird immer Raubtiere und Raubvögel geben, und auch solche, die

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