Nachtflügel
Entscheidung getroffen hat.«
»Und sie ist ihm teuer zu stehen gekommen«, sagte Ikaron. »Es hat seine Familie zerstört. Keiner seiner Söhne wollte ihm folgen.«
»Aber Nova hätte doch auch zurückbleiben können«, sagte Sylph.
Ikaron schnaubte. »Das wäre besser für uns alle gewesen. Doch Proteus hat gewollt, dass sie mitkommt, und sie hat ihm gehorcht.«
Dämmer konnte es kaum glauben, dass Nova gegenüber irgendjemandem außer sich selbst jemals gehorsam gewesen war.
»Es war nicht einfach eine Frage des Gehorsams«, sagte Mistral. »Novas Gefährte war gerade, während er nach Eiern jagte, von einem Saurier getötet worden. Sie war untröstlich und wollte den Sauriern für immer entkommen, und die Insel war für sie eine Zufluchtsstätte.«
»Ihr Vater war ein ausgezeichneter Ältester«, sagte Ikaron. »Ich habe ihn sehr bewundert. Doch Proteus war schon sehr alt und nicht ganz gesund. Er ist nach nur zwei Monaten auf der Insel gestorben. Dann wurde Nova Älteste.«
»Ich hab mich immer schon gefragt, wie das wohl passiert ist«, sagte Sylph. »Also keine niederträchtigen Söhne weit und breit und sie war die älteste Tochter! Wahrscheinlich ist es das erste Mal, dass es jemals einen weiblichen Ältesten gab.«
»Und sie hat nie einen anderen Gefährten gefunden«, sagte Mistral. »Vielleicht ist deshalb ihr Hass auf die Saurier so heftig und rachsüchtig.«
»Mit den Jahren hat sie immer häufiger davon gesprochen, wir sollten zum Festland zurückkehren und dem Pakt wieder beitreten«, sagte Ikaron. »Doch Barat, Sol und ich haben ihr nie zugestimmt. Ich glaube, der Quetzal heute hat ihre alte Wut und Angst wieder aufflammen lassen und deshalb hat sie ihr Schweigegelöbnis gebrochen. Es war ein Schwur, der jedem Sicherheit bringen sollte. Manchmal ist Unwissen dem Wissen vorzuziehen.«
Dämmer nickte. Er war sich nicht sicher, ob er alles verstanden hatte, doch er vertraute seinem Vater und wusste, dass er recht haben musste.
»Du hast wirklich nach Eiern gejagt?«
Ikaron nickte. »Wir beide haben das getan.«
Dämmer wandte sich erstaunt an seine Mutter. »Du auch?«
»Natürlich«, sagte Mistral.
»Das ist so unglaublich«, sagte Sylph mit vor Aufregung glänzenden Augen.
»Sie war ein besserer Jäger als ich«, gab Ikaron zu. »Listiger und mit einem außergewöhnlichen Sinn für …« Dämmer sah, wie ihre Mutter Ikaron einen warnenden Blick zuwarf. »… viel besserem Gespür«, schloss er den Satz. »Sie war hervorragend beim Aufspüren von Nestern.«
»Also hast du Saurier von Nahem gesehen?«, fragte Sylph ihre Mutter.
»Na ja, wir haben meistens gewartet, bis die Erwachsenen weit weg von ihren Nestern waren. Aber doch, manchmal sind wir schon sehr nahe an sie herangekommen.«
Sylph kuschelte sich bewundernd an die Schulter ihrer Mutter. »Ich wünschte, ich könnte Sauriereier jagen wie du, mich anschleichen …«
»Sag so was nicht«, blaffte Ikaron. »Für mich ist das widerlich!«
Alles Hochgefühl wich aus Sylphs Gesicht, das nun erstaunt und verletzt aussah.
Mistral blickte Ikaron an. »Sie ist jung und aufgeregt«, sagte sie beschwichtigend zu ihrem Gefährten. »Du bist zu streng mit ihr.«
»Sie sollte es aber besser wissen, besonders nach allem, was ich heute gesagt habe. Von meiner eigenen Tochter erwarte ich mehr. Mit solchen Dingen prahlt man nicht.«
Sylph sagte nichts, doch in ihren dunklen, halb verdeckten Augen konnte Dämmer Erbitterung brodeln sehen. Es war allerdings nicht das erste Mal, dass ihr Vater sie so heftig angefahren hatte. An manchen Tagen schien es, als würde ihn Sylph einfach nur reizen. Sie war ihm zu laut. Sie schrie, argumentierte und widersprach. Alles war für sie immer langweilig, dumm oder ungerecht. Dämmer drückte sich fester an seine Schwester, um sie zu trösten, doch sie sah ihn nicht an. Der verbissene Zug in ihrem Gesicht erschreckte ihn.
»Aber was ist denn falsch daran«, fing sie wieder an, »seine Kolonie vor Sauriernestern zu schützen?«
»Sylph …«, sagte ihre Mutter warnend.
»Ich glaube, wenn ich bei uns hier Sauriereier finden würde, wäre ich wie Nova und würde …«
Dicht an Sylphs Schulter schlugen Ikarons Zähne laut aufeinander. Sylph sprang mit einem Aufschrei zurück und Dämmer stieß laut und erschrocken die Luft aus. Sylph huschte wimmernd hinter den Rücken ihrer Mutter. Dämmer blickte zwischen seinen Eltern hin und her und erwartete, dass seine Mutter Ikaron zurechtweisen würde, doch sie
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