Nachtflügel
sagte nichts und ließ nur traurig den Kopf hängen.
»Benimm dich, wie es sich gehört«, sagte Ikaron zu Sylph. »Und lerne, deinen Verstand zu gebrauchen.«
Schweigend ließen sich die vier dann in den tiefen Furchen der Rinde nieder. Sylph drückte sich an ihre Mutter und weigerte sich, sich ihrem Vater zu nähern oder auch nur in seine Richtung zu blicken. Dämmer war glücklich, neben seinem Vater liegen zu können. Er mochte es zwar nicht, wenn sein Vater so zornig war, aber Sylph konnte einen wirklich reizen, sie hatte ihn ja geradezu provoziert. Zufrieden nahm Dämmer die vertrauten Gerüche auf, die ihn umgaben, die des Baums, der Nacht, seiner Eltern und seiner Schwester.
Er wusste kaum, welche seiner vielen Fragen er seinen Eltern als Nächste stellen sollte, so überwältigt war er von den neu entdeckten Seiten ihrer Persönlichkeit.
Sauriertöter.
Brecher des Pakts.
»Wie seid ihr eigentlich zur Insel rübergekommen«, fragte Dämmer plötzlich.
»Das war nicht einfach«, sagte Ikaron. »Wir haben lange Zeit alles beobachtet und etwas herausgefunden: Zweimal am Tag zieht sich das Wasser kurz vom Festland zurück und öffnet einen schmalen Sandweg zur Insel. Die Festlandküste ist hoch, und wir sind auf den höchsten Baum geklettert, der über das Wasser ragt. Wir suchten einen Tag aus, an dem der Wind von hinten kam. Dann warteten wir ab, bis das Wasser sich zurückgezogen hatte, und dann warfen wir uns in Richtung Insel. Ein paar von uns haben es geschafft, die ganze Strecke zu gleiten. Einige landeten auf dem Sand und liefen den Rest des Wegs. Ein paar landeten im Wasser und ertranken. Zwanzig von uns haben es schließlich bis zur anderen Seite geschafft und ein neues Leben begonnen.«
Dämmer schauderte es. Er war froh, nie eine so gefährliche Reise machen zu müssen. Und doch konnte er nicht anders, er beneidete seine Eltern um ihre früheren Abenteuer. Er fragte sich, ob er selbst jemals welche erleben würde.
»Können Sylph und ich morgen mit auf die Expedition gehen?«, fragte er.
»Ganz bestimmt nicht«, sagte seine Mutter. »Alle Neugeborenen bleiben hier.«
»Aber …«, wollte Sylph laut widersprechen, doch ihre Mutter gab nur ein scharfes Grunzen von sich und Sylph verstummte sofort.
Dämmer hätte wegen der Dreistigkeit seiner Schwester fast gekichert. Man konnte sie einfach nicht lange unten halten.
»Und jetzt wird geschlafen«, sagte Ikaron.
Dämmer träumte, er würde den Dinosaurier untersuchen und seine mächtigen federlosen Flügel betrachten. Er berührte ihre straffe Haut. Sie fühlte sich an wie seine eigene.
Der Saurier bewegte sich und öffnete ein Auge, drehte den Kopf zu ihm und umhüllte ihn mit seinem Atem.
»Ich gebe dir meine Flügel«, sagte er.
Dämmer wachte von dem Traum auf. Er fühlte sich beunruhigt, aufgeregt und schuldig, alles zugleich. Die Vorstellung, dass er fliegen könnte, erfüllte ihn mit einer ungeheueren Freude. Doch Träume waren nicht wahr, das wusste er zu Genüge. Wie oft schon hatte er geträumt, er könne fliegen, nur um dann an die Rinde gekauert aufzuwachen? Er erinnerte sich an die Worte seiner Mutter: Er sollte versuchen, so zu sein wie die anderen Chiropter. Aber war er denn wirklich wie sie? Er machte die Augen wieder zu, aber der Schlaf wollte sich nicht einstellen.
Gemessen an der Stille, die in dem Baum herrschte, schienen die übrigen Mitglieder der Kolonie keine Probleme mit dem Schlafen zu haben. Als wäre das eine Nacht wie jede andere und als hätten sie nicht gerade zum ersten Mal von ihrer folgenschweren Geschichte erfahren.
Um niemanden aus seiner Familie zu stören, verließ er leise den Schlafplatz, kroch über den Ast, umrundete die Schlafplätze anderer Chiropter, und am Ende des Asts, nahe bei dem Jagdsitz seiner Familie, hockte er sich hin. Der Mond war noch nicht aufgegangen, und die Lichtung und der Wald waren in tiefe Dunkelheit gehüllt. Da unten, dicht über der Erde, hing der tote geflügelte Saurier über den unteren Ästen.
Ein Quetzal, so hatte ihn sein Vater genannt.
Hier auf dem Ast, so empfand er es, balancierte er am Rande der Nacht, die sich vor und unter ihm endlos weit erstreckte. Die Dunkelheit machte ihm keine Angst, das hatte sie noch nie getan. Er wusste, sie erschreckte viele der Neugeborenen, aber auch Erwachsene. Wenn die Nacht kam, waren sie froh, sich in die Nester zurückziehen zu können. Doch ihm machte das aus irgendeinem Grund nichts aus, wenn er nachts alleine wach war,
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