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Nachtflügel

Nachtflügel

Titel: Nachtflügel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kenneth Oppel
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darauf, dein Schnalzen früher auszustoßen, mit einem extra Kick am Ende. Wir machen das mal zusammen. Oh, und versuche, die Augen zuzumachen. Dann kannst du dich besser konzentrieren. Fertig?«
    Sylph räusperte sich und stieß zusammen mit Dämmer eine Serie von Jagdschnalzern aus.
    »Nichts«, sagte sie nach einem Moment. »Das ist doch ein Witz, oder?«
    »Du hast die Bäume auf der anderen Seite der Lichtung nicht gesehen?«
    »Nein. Du etwa?«
    Dämmer wusste nicht, was er sagen sollte.
    »Sag schon«, drängte Sylph und klang fast schon wütend. »Was hat du gesehen?«
    »Nur ein Stück von einem Baum.«
    »Du lügst. Was noch?«
    »Auch alle Stämme und Äste, alles ganz silbrig, aber sehr deutlich. Ich hab Astlöcher und Furchen in der Rinde gesehen. Die Blätter haben geschimmert. Ich vermute, weil der Wind sie bewegt hat. Es ist richtig hübsch, wie sie tanzen und glühen. Und um die Äste herum wimmelt es von unzähligen Insekten, wie Sternschnuppen, und tiefer im Wald, da gibt es so eine Art Leuchten, ein Summen von allem, was einfach lebt und sich bewegt.«
    Als er fertig war, blieb Sylph einen Moment lang ganz still. Dann fragte sie: »Und das hast du alles mit geschlossenen Augen gesehen?«
    Er nickte eifrig.
    »Das ist so ungerecht«, murmelte sie. »Hast du gerade erst entdeckt, dass du das kannst?«
    »Ich hab das bisher noch nie bei Nacht versucht«, sagte er. »Vielleicht können das viele von uns.«
    »Es hat uns niemand gesagt, dass Chiropter bei Nacht sehen können.«
    »Du glaubst, dass ich der Einzige bin, der das kann?«, wollte er wissen. Er konnte nicht anders, er freute sich einfach, dass er eine spezielle Begabung hatte. »Vielleicht sollte ich Mama fragen, ob sie das schon mal gemacht hat.«
    Sylph schnaubte. »Sie wird dir nur wieder sagen, dass du damit aufhören sollst, anders zu sein.«
    Dämmer wurde es langsam unheimlich. »Ich will nicht, dass Papa denkt, ich sei eine Missgeburt.«
    Sein Vater war bei seinen anderen Besonderheiten – seinen haarlosen Flügeln, seinen fehlenden Zehen, den schwachen Beinen und den zu großen Ohren – scheinbar immer geduldig geblieben, doch vielleicht wäre diese neue Sache nun zu viel. Er erinnerte sich an die Wut im Gesicht seines Vaters, als er nach Sylph geschnappt hatte. Das wollte Dämmer niemals am eigenen Leib erleben.
    »Mach dir keine Sorgen«, sagte Sylph. »Du bist schon immer Papas Liebling gewesen.«
    »Das stimmt doch gar nicht«, sagte Dämmer unbehaglich.
    »Mit dir ist er noch nie böse geworden. Immer nur mit mir. Er findet mich einfach zu laut.«
    »Na ja, das bist du auch manchmal.«
    »Wenn ich ein Mann wäre, wäre ihm das egal. Das ist nur, weil ich eine Frau bin. Papa hält nicht viel von Frauen.«
    »Nein, Sylph!« Dämmer war bestürzt. Dieser Gedanke war ihm noch nie gekommen. Hatte sein Vater ihre Mutter nicht immer gut behandelt?
    »So was merkst du nicht, weil du ein Mann bist. Männer geben ihrer Familie ihren Namen. Männer werden Anführer und Älteste.«
    »Nova ist eine Älteste und sie ist eine Frau!«
    »Und das macht Papa verrückt. Denk doch nur daran, wie er sie auf der Versammlung behandelt hat.«
    »Das hat sie auch verdient.«
    »Wirklich? Und wenn sie recht hat?«
    »Sylph! Papa hat recht.«
    »Ja, ja, das denkt Papa auch.« Seine Schwester rümpfte die Nase. »Immer.«
    »Papa weiß es besser als wir alle«, erinnerte Dämmer sie. »Er ist älter und er ist seit zwanzig Jahren Anführer.«
    »Dann frag ihn nach dem Sehen in der Dunkelheit«, sagte Sylph ein bisschen sauer. »Und dann warte mal ab, was er sagt.«
    Dämmer war sich gar nicht mehr sicher. Morgen sollte die Expedition aufbrechen und die Insel nach einem Sauriernest absuchen. Da würde sein Vater abgelenkt sein und beschäftigt.
    »Ich hoffe nur, dass ich nicht der Einzige bin«, sagte Dämmer.
    Sylph gab ein unverbindliches Grunzen von sich. »Ich geh jetzt schlafen. Kommst du auch?«
    »Ich bin gleich da.«
    Als er wieder alleine war, setzte sich Dämmer auf den Ast und schickte sein Klangsehen zu dem toten Saurier.
    Der Umriss von dessen mächtigem Flügel flammte in Dämmers Kopfauge auf, haarlos, gespannte Haut über Knochen – wirklich gar nicht so viel anders als bei ihm. Das war kein angenehmer Gedanke. Er löschte das Bild schnell aus seinem Kopf. Noch immer hing ihm der stinkende Todesatem in der Nase. Ich gebe dir meine Flügel. Dämmer merkte, dass er zitterte. Er hatte das Gefühl, als hätte der Saurier seinen Himmel über

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