Nachtflügel

Saurier die Ursache für seine neuen Fähigkeiten gewesen war.
    »Das«, sagte Ikaron voller Verachtung, »ist wirklich die absolut schlimmste Art von abergläubischem Unsinn. Da ist nichts von einem Fluch, auch keine Ansteckung. Ich erwarte von dir als einer Ältesten, dass du alles daransetzt, solchen Gerüchten ein Ende zu bereiten – und sie nicht auch noch schürst.«
    »Es wird Unmut aufkommen«, murmelte Nova.
    »Aha! Jetzt kommen wir zum Kern der Sache«, sagte Ikaron. »Viele würden anscheinend selbst gerne fliegen können. Die Lichtung war voller Geflatter. Es ist nur ihr eigener Misserfolg, der dieses höchst befremdliche Geschrei verursacht.«
    »Ich hab schon verstanden. Du also bist nicht bereit, dich in dieser Sache umstimmen zu lassen.«
    »Mit Sicherheit nicht. Mein Sohn hat eine besondere Gabe. Warum sollte er sich dafür schämen? Und warum sollte er sie nicht zu seinem Vorteil einsetzen?«
    »Das mag zu seinem Vorteil gereichen, aber nicht zu unserem als Ganzem«, sagte Nova. »Und das sollte schließlich deine Hauptsorge sein.«
    Dämmer war erstaunt, dass sie die Stärke hatte, so mit seinem Vater zu reden. Er musste sie dafür schon fast bewundern, denn er selbst konnte sich nicht vorstellen, mehr als nur ein Stammeln hervorzubringen, würde er in ein so strenges Gesicht blicken. Er sah, wie sich die Muskeln seines Vaters anspannten.
    »Dieser Kolonie galt immer meine erste Sorge, die meinem Herzen am nächsten lag«, sagte Ikaron. »Und wenn ich sehe, dass ihr Wohlergehen bedroht ist, werde ich handeln. Gibt es sonst noch etwas, das du mir sagen wolltest?«
    »Ich habe alles gesagt«, entgegnete Nova und machte sich an den Anstieg zu ihrem Ruheplatz. Sie war schon fast so alt wie Dämmers Vater und ihre Bewegungen waren müde.
    Allein nur Zeuge dieser Unterhaltung gewesen zu sein hatte Dämmer erschöpft.
    »Alles in Ordnung?«, fragte seine Mutter, und da erst merkte er, dass er am ganzen Leib zitterte.
    Er nickte.
    »Reg dich bloß nicht über diesen Blödsinn auf«, sagte Ikaron. »Irgendwelche Chiropter werden Neuem gegenüber immer misstrauisch sein – und auch neidisch.«
    »Ich hatte befürchtet, dass dies passieren würde«, sagte Dämmers Mutter.
    »Ich versuche doch, keinem in die Quere zu kommen«, sagte Dämmer. »Und ich war nicht einmal in der Nähe der Vogelnester.«
    »Ich glaube nicht, dass Nova für irgendjemanden außer sich selbst gesprochen hat«, beruhigte ihn sein Vater, »und vielleicht noch ein paar andere verärgerte Chiropter.«
    »Jib und Aeolus haben natürlich auch deswegen gemeckert«, sagte Sylph.
    »Neugeborene, die es nicht besser wissen«, meinte Ikaron geringschätzig. »Von Barats oder Sols Familie habe ich nichts gehört. Alles ist in Ordnung, Dämmer.«
    »Ja«, sagte er und nickte fest. Doch er wusste, dass seine Mutter sich Sorgen machte, und er selbst war weit davon entfernt, beruhigt zu sein. Er wollte fliegen. Er liebte das Fliegen. Aber er wollte keine Missgeburt sein. Egal, was seine Eltern gesagt hatten, es gab bestimmt noch ein paar andere wie ihn. Irgendwo.
    Am nächsten Morgen war Dämmer wieder am Oberen Holm, um die Vögel zu beobachten. Er hatte beim Fliegen immer noch viel zu verbessern. Besonders unzufrieden war er mit seiner Landung, und er hoffte, das von den Vögeln lernen zu können.
    Er hatte gerade einen Vogel beobachtet, der im nächsten Baum gelandet war, und wartete nun darauf, dass er wieder losflog, als er plötzlich ganz stark das Gefühl hatte, selbst beobachtet zu werden. Er schaute den Ast entlang und erwartete, Sylph zu sehen oder Jib und Aeolus, die ihm nachspionierten. Dämmer wusste, dass sie eine erhebliche Zeit auf dem Oberen Holm verbrachten, um sich von dort in ihre endlosen Jagdwettbewerbe zu stürzen. Aber es war nichts von ihnen zu sehen. Sein Nackenfell stellte sich auf. Er blickte nach oben und sah direkt über sich auf dem nächsthöheren Ast, weniger als einen Meter entfernt, einen Vogel sitzen. Dämmer hatte nicht gehört, wie er gelandet war.
    Mit großer Aufmerksamkeit blickte der Vogel auf ihn herab und bewegte seinen Kopf mit abrupten, abgezirkelten Bewegungen, als wollte er Dämmer aus allen möglichen Blickwinkeln betrachten. Sein Schnabel war leicht gezackt wie eine Erinnerung an vergangene Zeiten.
    Dämmer schob sich etwas zurück, damit er ihn besser sehen konnte. Der Vogel machte einen kleinen Hopser, flog aber nicht weg, sondern blickte ihn weiter mit seinen unerschrockenen, schwarzen Augen an.