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Nachtflügel

Nachtflügel

Titel: Nachtflügel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kenneth Oppel
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Dämmer geriet etwas aus der Fassung. Noch nie war er einem Vogel so nahe gewesen und vor allem hatte noch nie einer solches Interesse an ihm gezeigt.
    »Warum starrst du mich so an?«, fragte er.
    »Warum starrst du uns so an?«, fragte der Vogel mit einer eigenartig melodisch trillernden Stimme zurück.
    »Ich warte darauf, euch fliegen zu sehen«, erwiderte Dämmer.
    »Und ich warte darauf, dich fliegen zu sehen«, sagte der Vogel. »Du bist der Einzige, der fliegen kann, stimmt’s?«
    »Ja.« Er sah keinen Sinn darin, es abzustreiten, wenn die Nachricht von seinem Fliegen bereits bis in den Bereich der Vögel vorgedrungen war. Er hatte diese Geschöpfe sein ganzes Leben lang beneidet und bewundert, aber er hatte sich nie vorstellen können, einmal mit einem zu reden. Und er hatte den Verdacht, dass nicht einmal das erlaubt war. Er würde seinen Vater später danach fragen.
    »Alle sprechen von dir«, fuhr der Vogel fort.
    »Und was sagen sie?«, wollte Dämmer wissen.
    »Es gefällt ihnen nicht. Sie finden es absurd. Und ich wollte es jetzt auch mal sehen. Es scheint eigentlich unmöglich zu sein. Du hast doch nicht einmal Federn an deinen Flügeln.«
    »Man braucht keine Federn, um zu fliegen«, sagte Dämmer. »Auch keine Flügel. Ich hab Segel.«
    »Für mich sehen die wie Flügel aus.«
    »So nennen wir sie aber nicht.«
    »Hast du einen Namen?«, fragte der Vogel.
    »Natürlich habe ich einen. Du nicht?«
    »Selbstverständlich. Ich war mir nur nicht sicher, ob ihr euch die Mühe macht, euch Namen zu geben. Für mich seht ihr alle ziemlich gleich aus.«
    Dämmer war entrüstet. Ihm war immer gesagt worden, Vögel seien unverschämt und hochmütig. Jetzt konnte er verstehen, warum. »Na, vielleicht seht ihr für uns auch alle gleich aus.«
    Eine Weile waren beide still.
    »Ich heiße Teryx«, sagte der Vogel schließlich mit einem, wie Dämmer fand, versöhnlichen Trillern.
    »Ich bin Dämmer. Bist du ein Er oder eine Sie?«
    »Ein Er!«, sagte Teryx und ruckte verärgert mit dem Kopf. »Das ist doch wohl offensichtlich!«
    »Wodurch ist das offensichtlich?«
    »Hör doch mal meinen Ruf!«
    Teryx stieß einen kurzen Triller aus, und obwohl sich der sehr hübsch anhörte, wusste Dämmer nicht, ob er nun ausgesprochen weiblich oder männlich klang.
    »Er ist einfach ein bisschen tiefer als bei einem Weibchen«, sagte Teryx hilfsbereit. »Und die Melodie ist weniger kompliziert.«
    Dämmer nickte, als wäre ihm das alles völlig klar.
    »Also, für mich ist es auch nicht einfacher zu wissen, was du bist«, stellte Teryx fest.
    »Männlich«, sagte Dämmer.
    »Ich glaube dir einfach mal«, meinte Teryx.
    »Wie alt bist du?«, wollte Dämmer wissen.
    »Vier Monate. Und du?«
    »Fast acht.«
    »Das ist ja interessant, dass Vögel schneller erwachsen werden«, sagte Teryx.
    »Ist das denn so?«, fragte Dämmer.
    »Ja. Ich bin jetzt fast ausgewachsen. Aber es sieht so aus, als müsstest du noch ein bisschen größer werden.«
    Dämmer fand, dass er eigentlich protestieren müsste, vermutete aber, dass der Vogel recht hatte. Er war noch nicht annähernd so groß wie sein Vater. Trotzdem gefiel es ihm nicht besonders, dass Teryx so viel größer war als er.
    Dämmer blickte sich um und hoffte, dass niemand aus seiner Kolonie sie bei ihrer Unterhaltung beobachtete. Er wollte keine Schwierigkeiten bekommen, auch wenn ihm noch niemand gesagt hatte, dass dies gegen die Regeln wäre. Auf jeden Fall wirkte Teryx nicht gefährlich und sie beide befanden sich jeweils in ihrem eigenen Bereich. Keiner von ihnen hatte also unerlaubtes Gebiet betreten.
    Und Teryx sah wirklich richtig hübsch aus. Seine Brust war strahlend gelb, die Kehle weiß und der Kopf grau. Das Gesicht kam Dämmer ein bisschen rätselhaft vor: Es war wie ein Maske und alles Lebhafte kam von den Augen.
    »Du lebst hier auf der Insel?«, fragte Dämmer.
    »Ja, und ich bin schon ganz um sie herum geflogen.«
    An eine solche Freiheit und Geschwindigkeit zu denken erregte Dämmer. Und nun hatte er die auch. Mit seinen Segeln konnte er nun fliegen, wohin er wollte.
    »Bist du auch schon auf dem Festland gewesen?«, fragte er.
    Teryx machte einen ungeduldigen Hopser. »Noch nicht. Meine Eltern sagen, ich wäre noch nicht so weit. Aber bald.«
    Dämmer fragte sich, ob seine Eltern ihm jemals erlauben würden, eine solche Reise zu machen. Da drüben wäre eine völlig neue Welt. Doch nach dem zu urteilen, was er bisher gehört hatte, schien es dort erbarmungslos und

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