Nachtflügel
Pupillen saugten die Nacht auf, zeigten den Wald in glänzenden Rot- und Grautönen. Der Mond schien hell – eine ideale Zeit für die Jagd. Um ihn herum ragten hohe Bäume auf. Alle paar Schritte hielt er an, spitzte die Ohren und seine Pfoten achteten auf jede Vibration des Bodens. Links und rechts hinter ihm hielt seine Meute mit ihm Schritt, geleitet von dem gelegentlichen Jagdzwitschern, das er oben in seiner Kehle bildete.
Diese Insel würde ein ideales Jagdrevier sein. Es war vom Festland abgeschnitten und die Tiere hier hatten sicher noch nichts von ihnen gehört. Reißzahn und seine Meute würden sich die Bäuche mit leichter Beute vollschlagen können. Und wenn sie den Überraschungsvorteil nicht mehr hatten, würde das Wasser es den Tieren unmöglich machen, zu entkommen. Wenn die Gejagten vorsichtiger würden, dann würden die Jäger eben noch geschickter werden. Die Insel bot einen ausgezeichneten Übungsplatz.
Überall um sich herum hörte Reißzahn kleine Grundlinge durch das Unterholz rascheln, die ihrer nächtlichen Beschäftigung nachgingen. Doch jetzt gerade war er an ihnen nicht interessiert. In seiner Nase hing der Geruch von Aas. Den hatte er sofort wahrgenommen, als er den ersten Schritt auf die Insel gemacht hatte, und der lockte ihn weiter in den Wald. Der Geruch erregte ihn, und seine Stärke bedeutete, dass er von einem sehr großen Tier kam. Und das bedeutete leicht erworbenes Futter. Doch was noch wichtiger war, das Aas würde vielleicht andere Nahrung suchende Tiere anlocken, und Reißzahn und seine Meute konnten sich auf die Lauer legen und beobachten, welche Arten von Tieren auf der Insel lebten.
Weiter vor ihm befand sich eine in Mondlicht getauchte Lichtung. Der Geruch wurde stärker, und Reißzahn bewegte sich noch vorsichtiger vorwärts, weil er wusste, dass es schon reichte, wenn ein Blatt über sein Fell strich, um andere Tiere aufmerksam werden zu lassen. Er schnüffelte, leckte die Luft mit der Zunge auf und fand die Ursache.
Am Rande der Lichtung hing ein riesiger Flügel leblos aus einem Mammutbaum herab. Hier im Wald schien der so fehl am Platz, dass Reißzahn erst ein paar Sekunden hinschauen musste, nur um sicherzugehen, dass er wirklich da war. Es war der Flügel eines Quetzals. Möglichst tief duckte sich Reißzahn in das Buschwerk und zwitscherte seiner Meute zu, dasselbe zu tun. Auf dem Bauch glitt er in eine bessere Position und erblickte, abgehoben gegen das Mondlicht, den knochigen Kopf des Quetzals, verwest bis auf den Schädel, die Augen längst von den Insekten eingefordert. Langsam kroch Reißzahn weiter. Das Fleisch des Saurierkörpers war bereits abgeschält. Alles, was noch übrig geblieben war, waren die membranartigen Flügel und die Knorpel, die verfaulten und den Geruch abgaben, der Reißzahn angelockt hatte. Zu fressen war nichts übrig geblieben und Reißzahns Magen jaulte gequält auf.
Er spähte über die Lichtung zu einem riesigen Mammutbaum. Noch nie hatte er einen Baum mit einem so dicken Stamm gesehen. Sein Blick wanderte höher. Sogar die Äste waren riesig, vor allem im mittleren Teil. Hätte der Mond nicht so hell geschienen, hätte er sie möglicherweise nie bemerkt: die Hunderte dunkler, kleiner Gestalten, die in den Vertiefungen längs der mächtigen Äste nisteten. Eine der Gestalten bewegte sich im Schlaf, wobei sie kurz die Segel hob.
Reißzahn zwitscherte leise und Miacis schob sich an seine Seite.
»Chiropter«, flüsterte er ihr zu.
Seine Drüsen prickelten schmerzhaft, während ihm der Speichel über die Backenzähne tropfte und sie für das Reißen schmierte. Er konnte sich kaum zurückhalten, den Baum hinaufzujagen, doch er war mit diesen Kreaturen vertraut und wusste, dass er einen Plan brauchte, wenn seine Meute bei dieser Jagd erfolgreich sein sollte.
Er hauchte Miacis seine Anweisungen zu. Sie zog die Lippen zurück und er konnte ihre Zähne feucht schimmern sehen.
»Gut«, sagte sie.
Dämmer flog so schnell zum Mammutbaum zurück, wie er es seinen erschöpften Muskeln abverlangen konnte.
Wolken schoben sich nun immer wieder vor den Mond, und er hatte Bedenken, ob er den Weg nach Hause finden könnte. Doch dann sah er den einen Baum, der sich geisterhaft silbern über alle anderen erhob, und wusste, das musste sein Mammutbaum sein. Der größte im Wald. Und genau deshalb hatte sein Vater ihn auch ausgewählt. Noch etwas näher, und schon sah er, wie die Lichtung sich öffnete. Er winkelte die Segel an und tauchte in
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