Nachtflügel
gleich auf der anderen Seite.«
Sie waren umgeben von anderen Chiroptern, die sich bemühten zusammenzubleiben und sich in der tiefen Dunkelheit durch Zurufe verständigten. Dämmer hätte gerne das ganze Zwitschern ausgeblendet, denn es war wie ein schreckliches Echo seiner eigenen fieberhaften Gedanken.
Was machen wir, wenn wir gelandet sind?
Wohin sollen wir gehen?
Wo war es sicher?
Das Kreischen aus dem Mammutbaum nahm ab, doch mit jedem Schlag seiner Segel empfand Dämmer einen reißenden Kummer. Seine Eltern waren immer noch dort und er war ein Feigling. Er hatte sie alleine mit dem Feliden kämpfen lassen. Aber er hatte Angst, mehr Angst, als er sich je vorgestellt hatte, und er musste mit sich kämpfen, nicht einfach höher und höher zu steigen und sich selbst vom Wald und den Feliden insgesamt zu entfernen.
Doch Sylph war neben ihm und brauchte sein Sehen, denn die Bäume zeichneten sich jetzt vor ihnen ab. Mit dem Echosehen leuchtete er den nächsten Mammutbaum aus und suchte das Geflecht der Äste nach einem günstigen Landeplatz ab. Er nahm eine verschwommene Bewegung wahr, und als er mehr Töne ausschickte, konnte er einen langen, flach an den Ast gepressten Körper erkennen, mit dreieckigen Ohren, die vom Kopf abstanden.
»Da ist ein Felid im Baum!«, brüllte er. »Nicht landen!«
Im selben Augenblick hörte Dämmer von hoch oben aus genau diesem Mammutbaum Chiropter kreischen.
»Hier oben sind sie auch!«, schrie eine sich überschlagende Stimme.
Plötzlich durchschaute Dämmer den Plan der Feliden. Sie waren nicht nur auf ihren Mammutbaum geklettert, sondern auch auf alle umstehenden, wo sie auf die fliehenden Chiropter lauerten. Dann konnten sie ihre Beute von Baum zu Baum treiben, bis sie gefangen war.
»Abdrehen!«, schrie Dämmer.
»Wo? Wo sind sie?«, rief ein Chiropter neben Dämmers linkem Segel.
Mit dem Echosehen sah er den Felid mit gefletschten Zähnen zum Ende des Asts springen. In der allgemeinen Verwirrung segelten einige Chiropter einfach weiter.
»Dreh um«, sagte er zu Sylph, schlug heftiger mit den Segeln, flog an ihr vorbei und versuchte, vor die anderen unglückseligen Gleiter zu kommen.
»Gleich da vorn ist ein anderer Felid!«, schrie er denen zu. Ihm blieben nur ein paar Sekunden. Ein älterer Chiropter segelte weiter direkt auf den Baum zu. Vielleicht war er taub oder einfach nur voller Panik und verwirrt, um den Ansturm von Schreien und Rufen zu verstehen, der nun die Lichtung erfüllte.
»He, zurück!«, schrie Dämmer noch einmal. »Da ist einer im Baum!«
Der Chiropter hatte bereits die Segel zur Landung aufgestellt, und als er endlich aufgeschreckt zu Dämmer zurückblickte, war es bereits zu spät. Obwohl er noch versuchte abzudrehen, hatte er doch schon zu viel an Geschwindigkeit verloren, kam fast zum Stillstand und fiel auf den Ast. Während Dämmer hilflos zusah, erhob sich der Felid auf die Hinterbeine, schnappte den alten Chiropter und schlug die Zähne in ihn.
Dämmer drehte ab. Einige andere Chiropter waren ausgeschert und auf nahe gelegenen Ästen gelandet, wo sie verzweifelt versuchten, außer Sicht zu krabbeln. Wieder andere hatten es geschafft, ganz zu wenden, und segelten zu ihrem Mammutbaum zurück. Sylph war unter ihnen. Er flog neben sie.
»Dämmer, bist du das?«
»Ja, ich bin’s.«
»Wir brauchen einen sicheren Platz zum Landen.«
»Wir schaffen das schon«, sagte er, »wir schaffen das.«
Doch sein Magen zog sich zusammen, denn er wusste, dass sie auf noch mehr wartende Feliden zusegelten.
»Kannst du Mama und Papa sehen?«, fragte sie kläglich.
Verzweifelt richtete er sein Klangsehen auf den Mammutbaum und versuchte, sie zu finden. Doch da war viel zu viel hektische Bewegung, Bilder wie wilde Blitze. Er suchte den Ast seiner Familie, sah aber nichts von dem Feliden und seinen Eltern. Was war mit ihnen geschehen? Wahrscheinlich hatte sich sein Vater mit Mamas Hilfe den Weg freigekämpft. Er war stark und furchtlos, er konnte nicht getötet worden sein. Und seine Mutter konnte weit sehen, sie konnte die Feliden kommen sehen. Sie waren bestimmt in Sicherheit. Aber wo waren sie?
Er richtete seinen Blick zurück auf Sylphs Gleitbahn und suchte nach einem möglichen Landeplatz. Er musste sich darauf konzentrieren, sie beide in Sicherheit zu bringen. In den höheren Ästen konnte er einen Feliden ausmachen, der völlig vertieft von einem toten Chiropter fraß, ein unkenntliches Durcheinander von Innereien und zerfetzter Haut.
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