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Nachtflügel

Nachtflügel

Titel: Nachtflügel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kenneth Oppel
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hab nichts gesagt«, gab er endlich zu, nicht in der Lage, sie noch länger zu quälen. »Dein Geheimnis ist sicher. Ich hab nur einen kleinen Spaß gemacht.«
    »Das war gemein.«
    »Na, du warst auch gemein zu mir.«
    »Wieso?«
    »Du bist mir ausgewichen.«
    »Du bist der, der mir ausgewichen ist. Immer bist du nur durch den Wald geschlichen.«
    Dämmer verstand, was sie meinte, und seufzte. »Mit dem Rumschleichen bin ich fertig.«
    »Gut.«
    Dämmer hatte nicht das Gefühl, dass sie noch viel sagen mussten, und sie trennten sich wieder, doch ihm war viel leichter ums Herz als eine ganze Zeit zuvor.
    Als er später am Nachmittag zu ihrem Schlafplatz zurückkehrte, war er angenehm müde und hatte einen vollen Bauch. Die Eltern waren schon da. Nicht viel später kam auch Sylph. Als sie dann zusammensaßen und sich selbst und auch gegenseitig putzten, hatte Dämmer das Gefühl, dass mit seiner Familie wieder alles in Ordnung war, trotz all der Geheimnisse, die sie voreinander hatten. Vielleicht gab es in allen Familien Geheimnisse, obwohl er bezweifelte, dass sie bei irgendjemandem sonst so zahlreich und so kompliziert waren wie bei ihnen.
    »Papa«, fragte er, »wie bist du eigentlich Anführer geworden?«
    Er sah, wie Sylph aufschaute, und wechselte einen kurzen Blick mit ihr, ehe er seine Aufmerksamkeit wieder seinem Vater zuwandte.
    »Das war noch auf dem Festland«, begann ihr Vater, »als wir mit unserer Kolonie brachen. Da haben wir einen gebraucht, der unsere vier Familien anführte.«
    »Aber war Proteus nicht älter?«, fragte Sylph ganz unschuldig.
    »Das war er wirklich«, antwortete Mistral. »Und er wäre ein ausgezeichneter Anführer geworden. Ich bin mir nicht so sicher, ob wir ohne seine Anleitung das Selbstvertrauen gehabt hätten, aus dem Pakt auszuscheren.«
    »Ach«, sagte Sylph. »Und warum ist er nicht der Anführer geworden?«
    »Ich wollte, dass er das wird«, antwortete Ikaron und blickte sie direkt an, als wollte er den Grund für ihre Frage von ihren Augen ablesen. »Wir alle wollten das. Doch er weigerte sich. Er sagte, er sei zu alt und dass wir in dieser schwierigen Zeit einen Jüngeren, Stärkeren bräuchten. Er hat mich gebeten, der Anführer zu werden. Ehrlich gesagt, ich war auf diese Verantwortung nicht besonders erpicht, aber Sol und Barat bedrängten mich ebenfalls.«
    Triumphierend grinste Dämmer zu Sylph hinüber. In Jibs Erzählung hatte es geklungen, als hätte sich ihr Vater durch Einschüchterung und Betrug die Führung verschafft, doch er hatte sie nicht einmal gewollt! Vielleicht würde Sylph nun ihrem Vater gegenüber ein bisschen weniger kritisch eingestellt sein.
    Als die Nacht hereinbrach, legte sich die Familie nebeneinander in das Nest. Dämmer war so zufrieden, dass er bereits halb eingeschlafen war, bevor er bemerkte, dass irgendetwas nicht stimmte. Am wolkenlosen Himmel glomm der letzte Schimmer Tageslicht und ein sanfter Wind ließ die Lichtung duften – doch es fehlte das Abendlied.
    »Die Vögel singen nicht«, flüsterte er Sylph zu.
    »Vielleicht kommt ein Wetterumschwung«, sagte sie schläfrig. »Dann sind sie oft so still.«
    Dämmer schnüffelte und sog die Luft ein. Es roch und schmeckte nicht so, als ob schlechtes Wetter in Anzug wäre. Er konnte sich nur an ein- oder zweimal in seinem ganzen Leben erinnern, dass die Vögel in der Abenddämmerung nicht gesungen hatten, und die Stille beunruhigte ihn jetzt. Er sah zu seinem Vater, der seinen Blick ruhig erwiderte.
    »Schlaf jetzt, Dämmer«, sagte er. »Es ist alles in Ordnung.«
    Er glaubte nicht, dass er einschlafen könnte, aber er schlief … und wachte später wieder auf. Die Lichtung war in silbriges Mondlicht getaucht und alle im Mammutbaum schliefen, außer ihm.
    Der Himmel war immer noch klar und es gab keinerlei Anzeichen für einen Wetterumschwung. Dämmer hoffte, dass es eine ganz harmlose Erklärung für das Schweigen der Vögel gab, doch er befürchtete, dass es etwas mit den Feliden auf dem Festland zu tun hatte. Waren die Vögel zu wachsam, um zu singen? Waren sie untergetaucht?
    Von weit her kam ein Geräusch, das Dämmer noch nie gehört hatte. Es war die Art von leisen Tönen, von denen er glaubte, dass man sie nur bei Nacht hören konnte, wenn die Geräusche scheinbar so viel weiter reichten. Er wandte das Gesicht in die Richtung – ein seltsames, tiefes Zwitschern, doch nicht so, wie er es von den Vögeln kannte. Dann kam wie als Antwort ein trillerndes Zwitschern, und dann

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