Nachtflügel
manchmal auch Dämmer, doch meistens durfte er in der Nähe bleiben, allerdings nur, wenn er nicht vorlaut war und sich einmischte.
»Entschuldigung«, sagte Dämmer schnell und senkte den Kopf. »Es ist nur, weil ich gestern gesehen habe, wie das Wasser sich zurückgezogen hatte. Und wenn das immer zur selben Zeit passiert, dann wäre das nach Sonnenuntergang.«
»Gut«, sagte Ikaron und wandte sich wieder den Ältesten zu. »Als wir damals rübergekommen sind, haben wir das Wasser erst mehrere Tage lang studiert. Erinnert ihr euch? Es hat sich zweimal am Tag zurückgezogen – aber damals war das nicht bei Sonnenuntergang. Also verschiebt es sich wohl mit der Zeit.« Er blickte seinen Sohn an. »Und hast du die Brücke gesehen?«
Dämmer nickte. »Ich glaube, die war da drüben. Ein dünner Sandstreifen.«
»Der bleibt nicht lange«, sagte Sol.
»Nein«, stimmte Barat zu.
Nova wandte den Kopf hin und her. »Ich spüre keinen Wind.«
»Dämmer«, sagte Ikaron, »kannst du über die Bäume fliegen und uns sagen, woher der Wind kommt?«
»Was ist mit den Vögeln?«, fragte Nova. »Was ist, wenn sie ihn sehen?«
»Jetzt haben wir größere Sorgen«, meinte Ikaron. »Dämmers Fähigkeiten bringen uns lebenswichtige Informationen. Mach schon, Dämmer.«
Eifrig sprang Dämmer in die Luft, schlug mit den Segeln und schraubte sich in einer Spirale bis über den höchsten Baum. Er kreiste, prüfte die Luft, wartete darauf, dass ihm der Wind das Fell andrückte, doch es herrschte Windstille. Er kehrte zu seinem Vater zurück und berichtete ihm das.
»Vielleicht ändert sich das noch«, sagte Ikaron. »Das geschieht oft am Nachmittag.«
»Aber ändert sich das zu unseren Gunsten?«, fragte Barat.
Dämmer betrachtete den Abstand zwischen Insel und Festland genau. Das Wasser glitzerte. Er versuchte, sich die Gleitbahn von den Bäumen aus vorzustellen. Das war nicht gerade ermutigend, denn meistens endete sie im Wasser, wenn auch kurz vor der gegenüberliegenden Küste. Wenn die Sandbrücke freilag, wären sie vielleicht in der Lage, darauf zu landen, doch dann wären sie auf dem Boden und damit langsam, und es würde eine lange Krabbelei bis zum Festland bedeuten. Und wenn sie die Brücke verfehlten … Ihn schauderte bei der Vorstellung, wie sich das Fell mit Wasser vollsaugte und einen nach unten zog.
»Ohne Wind schaffen wir es nicht«, sagte Barat. »Und auch dann ist es unwahrscheinlich, dass wir bis in die Bäume kommen.«
»Die Küste ist felsig«, sagte Nova. »Das wird schwierig, da hochzuklettern.«
Eine entmutigte Stille senkte sich über die Ältesten. Dämmer sah zu seinem Vater und wartete darauf, dass er die entscheidende Lösung vorbrachte.
»Wir müssen darauf hoffen, dass Wind aufkommt«, sagte Ikaron. »Wir haben Zeit bis Sonnenuntergang. Dann müssen wir das Beste daraus machen.«
»Wir können auch einen Tag warten und darauf hoffen, dass sich der Wind ändert«, schlug Barat vor.
»Damit fordern wir nur ein weiteres Gemetzel heraus«, sagte Ikaron. »Wir machen das heute Abend.«
Dämmer rutschte unbehaglich hin und her. Für ihn würde es einfach sein, das Wasser zu überqueren. Er musste nur flattern. Er blickte wieder auf das Sonnenlicht, das auf dem Wasser tanzte. Würde sich die lange Hitze des Tages sammeln und aufsteigen wie in ihrer Lichtung?
»Papa«, sagte er leise. »Was ist mit Thermik?«
Sein Vater verstand sofort und nickte. »Überprüf das mal.«
Dämmer schleuderte sich über das Wasser. Diesmal flatterte er nicht, sondern hielt seine Segel starr. Dann flog er auf das hellste Licht zu. Doch als er es erreichte, gab es keinen plötzlichen Auftrieb. Er flog höher und probierte noch ein paar ähnliche Stellen aus, ohne Erfolg. Das Wasser schien die Wärme nicht so aufzunehmen und abzugeben wie das Land. Entmutigt flog er zur Insel zurück.
Von der großen Höhe, in der er sich befand, entdeckte er plötzlich nicht weit vom Ufer entfernt eine felsige Lichtung. Auf ihrem Weg zur Küste waren sie daran nicht vorbeigekommen, doch sie sah ziemlich groß aus. Er hatte eine Idee. Schnell flog er über die Wipfel der Bäume zu dieser Lichtung.
Sofort fühlte er die Sonnenwärme am Bauch. Er kreiste, probierte die Luft aus und dann verspürte er einen Schub unter den Segeln. Wenn er nicht befürchtet hätte, die Feliden würden ihn hören, hätte er vor Freude geschrien. Eine starke Thermik stieg vom Grund der Lichtung auf. Er nutzte sie, weil er sehen wollte, wie weit sie ihn
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