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Nachtflügel

Nachtflügel

Titel: Nachtflügel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kenneth Oppel
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stieg in Dämmer Panik auf. Er wusste nicht genau, ob er Angst hatte, ihm selbst würde etwas passieren oder seinem Vater.
    Jede Nacht, bevor Dämmer einschlief, hoffte er, dass die Wunde seine Vaters am nächsten Tag verheilt wäre, doch das war nie der Fall. An einem guten Morgen sah sie genauso aus, an einem schlechten schlimmer. Und jetzt gerade waren Ikarons Augen geschwollen und rot. Aus seinem Fell stieg ein scharfer Geruch auf, der Dämmer gar nicht gefiel. In den beiden letzten Tagen hatte sein Tempo deutlich nachgelassen und er hatte öfter als sonst eine Rast ausgerufen.
    Dämmer war nicht mehr so dumm, ihn zu fragen, wie es ihm gehe. Die Antwort war immer dieselbe und Dämmer fand die Lüge von Mal zu Mal schwerer zu ertragen. Für eine Besserung bräuchte sein Vater mehr Ruhe und gerade jetzt schien das unmöglich.
    »Das sieht nach einer guten Stelle aus«, sagte Dämmer hoffnungsvoll. Er verstand nicht, warum es hier nicht mehr Tiere gab, doch eigentlich war ihm das im Moment auch egal. Es gab jedenfalls viele hohe Bäume und, wie es aussah und sich anhörte, massenhaft Insekten.
    Eine kleine, dunkle Gestalt huschte im Nachbarbaum außer Sicht. Dämmer hörte das Trappeln von Füßen und etwas, das wie Flüstern klang. Sein Fell prickelte. Er schaute zu seinem Vater und sah, dass der dieselbe Stelle beobachtete.
    Aus dem Augenwinkel nahm Dämmer eine Bewegung in einem anderen Baum wahr. Er riss den Kopf herum. Da war etwas Schnelles auf dem Ast und schon wieder verschwunden, bevor Dämmer mehr sehen konnte. Er hatte den Eindruck von etwas, das nicht auf vier, sondern auf zwei Beinen rannte. Einen Augenblick später kam das Wesen hinter dem Baumstamm hervor und hastete deutlich sichtbar über den Ast nach außen.
    Es war ein Tier mit silbrigem Pelz, doppelt so groß wie ein Chiropter. Seine Hinterbeine waren länger als die vorderen, was den irritierenden Eindruck erweckte, es würde nur auf den Hinterbeinen gehen. Das Wesen hielt an, setzte sich auf die Hinterbacken und legte die Hände mit verschränkten Fingern zusammen. Ein buschiger Schwanz schwenkte von einer Seite zur anderen. Bei noch keinem anderen Tier hatte Dämmer so riesige Augen gesehen: große, dunkle Monde mit einer braunen Iris und weiten Pupillen. Ausladende Ohren mit einer weißen Spitze standen schräg von seinem Kopf ab.
    Und plötzlich waren alle Bäume um sie herum voll mit diesen Geschöpfen, die wie aus dem Nichts erschienen und nun die Äste säumten und die Chiropter beobachteten.
    Sie schienen überhaupt nicht aggressiv, sondern nur neugierig zu sein, und doch war seine Kolonie, wie Dämmer bemerkte, vollkommen von ihnen umzingelt.
    »Das sind Baumrenner«, erklärte ihm sein Vater und rief dann einen Gruß.
    Eines dieser flinken Wesen sprang aus den Ästen auf Ikaron zu. Es folgte das übliche freundliche Beschnüffeln.
    »Ich bin Adapis«, sagte der Baumrenner. »Willkommen bei uns.«
    »Ich danke dir. Ich bin Ikaron, der Anführer dieser Kolonie hier.«
    Der Baumrenner blickte neugierig auf Ikarons Wunde an der Schulter und wurde dabei ziemlich aufgeregt. »Das hat sich entzündet. Aber ich kann das heilen. Erlaubst du?« Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich zu einigen anderen Baumrennern um, die sich genähert hatten. »Sammelt die Zutaten. Das muss behandelt werden.«
    »Du bist sehr freundlich«, sagte Ikaron.
    Dämmer konnte sich nicht vorstellen, wie dieses Wesen die Wunde seines Vaters heilen wollte. Wunden heilten von alleine oder eben nicht. Alles, was man tun konnte, war, sie sauber zu halten. Was darüber hinaus konnte der Baumrenner machen? Doch sein Vater schien der Behauptung zu vertrauen.
    »Bitte sage deiner Kolonie, dass sie gerne hier jagen kann«, sagte Adapis. »Ich denke, wir haben jede Menge Insektenbeute hier.«
    Innerhalb kurzer Zeit waren die Baumrenner zurückgekehrt und hielten Rindenstücke und Blätter in den Händen.
    Sylph kam zu Dämmer herabgeglitten.
    »Was machen die denn?«, flüsterte sie.
    »Sie sagen, sie können Papas Wunde heilen«, antwortete Dämmer.
    Erstaunt sah er zu, wie Adapis ein Stück Rinde in den Händen zerkrümelte. Seine fünf spitz zulaufenden Finger waren wunderbar geschickt. Dämmer hatte noch kein Tier gesehen, das mit solcher Leichtigkeit etwas halten oder zerreißen konnte. Adapis stopfte sich die Rinde in den Mund und kaute sie, während er gleichzeitig ein trockenes Blatt nahm und es zu einem kleinen Häufchen zerbröckelte. Dann spuckte er die Rinde auf

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