Nachtflug Zur Hölle
Weißrußlands
13. April, 09.35 Uhr
»Anflugkontrolle Lida Marine, hier Flug sieben-eins-eins mit zwei Maschinen, vierzig Kilometer südwestlich, tausend Meter, Kurs null-neun-null… verbessere, null-neun-fünf. Kommen.« Der junge weißrussische Jagdflieger, der die Standortmeldung abgegeben hatte, wischte sich den irritierenden Schweißtropfen unter dem Hartgummirand seiner Sauerstoffmaske weg. Heute waren für alle Kurse bei der ersten Meldung ungerade Werte vorgeschrieben – das hätte er fast vergessen. Entlang der Grenze zu Litauen gab es etwa ein Dutzend Luftverteidigungsstellungen, die sofort schießen würden, falls er einen zweiten Fehler dieser Art beging.
»Flug sieben-eins-eins, Lida Marine, zur Identifizierung fünf Sekunden lang Kurs null-vier-fünf halten, danach selbständig weiterfliegen.«
»Sieben-eins-eins, verstanden.« Hauptmann Wladi Doleckis steuerte seinen Jagdbomber MiG-27 mit zwei Fingern der rechten Hand in einer weiten Kurve nach Nordosten, zählte langsam bis fünf und kehrte dann auf den ursprünglichen Kurs zurück. Oberleutnant Franzisk Stebut, sein Rottenflieger, der sich mit seinem Jagdbomber Suchoi Su-17 an Doleckis’ linker Flügelspitze orientierte, folgte seinem Beispiel.
Franzisk, der ziemlich gut Formation hielt, schien an einer Schnur tief unter der MiG-27 zu hängen, obwohl er nur wenige Meter weit entfernt war.
Die Luftraumüberwachung im Grenzgebiet war nicht sonderlich effektiv – die Marine-Leitstelle Lida empfing offenbar kein Transpondersignal, sondern hatte nur ihr Primärecho auf dem Radarschirm –, aber solche kleinen Pannen waren alltäglich. Der junge, blonde, blauäugige Jagdbomberpilot ignorierte sie einfach. Als leidenschaftlicher Flieger dachte er gar nicht daran, sich von solchen Kleinigkeiten den Tag verderben zu lassen.
»Sieben-eins-eins, durch Radar identifiziert. Alle Höhenwechsel rechtzeitig ankündigen. Flüge westlich des vierundzwanzigsten Längengrads bis auf weiteres verboten. Lida Marines, Ende.«
»Sieben-eins-eins, verstanden. Ende.« Da er in die Ereignisse, die sich gerade in Litauen zusammenbrauten, nicht hineingezogen wer-430
den wollte, war ihm das nur recht. Die Heimatbrigade aus Smorgon war in Marsch gesetzt worden, um irgendwelche Unruhen in Litauen niederzuschlagen, aber obgleich außer Smorgon auch die Militärflugplätze Lida und Ross in Bereitschaft versetzt worden waren, hatten ihre Staffel keinen Einsatzbefehl bekommen. Auch wenn Doleckis sich manchmal ausmalte, wie es wäre, sich mit anderen Jagdfliegern oder ausländischen Luftabwehrsystemen zu messen, war er eigentlich nicht scharf auf einen richtigen Krieg.
»Lida Marine…«, wiederholte sein Rottenflieger auf der taktischen Frequenz. »Das ist doch ein richtiger Witz! Wann wird das Rufzeichen endlich geändert?«
»Wenn die Bürokraten mal ihre lahmen Ärsche hochkriegen«, antwortete Doleckis lachend. Der Name ihres Platzes gehörte zu den vielen Ungereimtheiten des Alltags in Belarus, zu den bürokratischen Absonderlichkeiten, die irgendwann korrigiert werden würden.
Der Marineflieger-Stützpunkt Lida – ungefähr 120 Kilometer westlich von Minsk und 240 Kilometer östlich der Ostsee – war früher ein wichtiger Stützpunkt der Baltischen Rotbannerflotte gewesen. Damals war in Lida noch eine Staffel Marineflieger mit zwanzig Jagdbombern Su-24 und Begleitjägern MiG-23 stationiert gewesen. Das jetzt unabhängige Weißrußland besaß natürlich weder Kriegsmarine noch Marineflieger – aber »Lida Marine« existierte weiterhin, ein unsinniges Relikt aus einer untergegangenen Gesellschaftsordnung.
Nun, vielleicht war doch nicht alles so schlecht, was von den Russen kam, Beispielsweise bauten sie erstklassige Militärflugzeuge wie seinen Jagdbomber MiG-27, der in großen Höhen fast Mach 2 erreichte und selbst in Bodennähe überschallschnell war. Dieser Jagdbomber konnte an Aufhängepunkten über 4000 Kilogramm Waffen schleppen und hatte mit Zusatztanks eine Einsatzreichweite von über 600 Kilometern. Auch die Elektronikausrüstung konnte sich sehen lassen: Zielsuchradar und Laser-Entfernungsmesser im Bug, automatische Doppler-Navigationsanlage, Radarwarnsystem Sirena-3, Infrarotsensor zur Erfassung und Bekämpfung von Bodenzielen und das modernisierte Feuerleitsystem ASP-5R. Dieser Vogel war fast so alt wie er, aber Doleckis flog ihn geradezu leidenschaftlich gern.
Oberleutnant Franzisk Stebuts einstrahliger Schwenkflügeljäger Su-17C war sogar noch
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