Nachtgeboren - Sinclair, A: Nachtgeboren
niemand sonst hier benutzte, und wandte den Kopf in die Richtung des Mannes, der sich gerade neben ihn gestellt hatte. Er brauchte ihn nicht zu peilen, um ihn zu erkennen, nicht, solange er dieses Parfum benutzte. Der Mann verbeugte sich und murmelte: »Er wird Sie jetzt empfangen.«
Ishmael folgte dem Dienstboten auf seinem Weg, der zwischen dekorativen Pfeilern hindurch und an Wandmalereien vorbeiführte. Gelegentlich peilte ihn jemand voller Neugier, doch aus Gewohnheit blieb er wachsam gegenüber Gefahren. Aber es war keine auszumachen. Eine schön verzierte Säule gleich neben einem Torbogen bildete eine kleine Nische, schon eng für eine Person, geschweige denn für zwei. Sein Führer steckte einen Schlüssel ins Schloss der kleinen Tür, die an dieser Stelle in die Wand eingelassen war, und drückte sie nach innen auf.
Ishmael trat nach ihm über die Schwelle, schloss sorgfältig die Tür hinter sich und stellte sicher, dass das Schloss einschnappte. Dann gingen sie durch einen engen Flur und traten an dessen Ende durch eine weitere Tür, die sich zwischen zwei Bücherregalen befand.
Mitten in dem Raum, den sie erreicht hatten, hob der Halbbruder des Erzherzogs den Blick von einem Spielbrett, das er gerade betrachtete, und sondierte ihn. »Danke, Pasquale. Ishmael, kommen Sie her und sehen Sie sich das an.«
Ishmael peilte und betrachtete die Aufstellung der geschnitzten Spielsteine. Sie stellten zwei verschiedene Parteien dar, und jeder Stein hatte zwei unterschiedliche Seiten. Komplizierte Regeln galten für die erlaubten Aufstellungen und Züge. Seine Kenntnisse reichten aus, um zu wissen, dass sich das Spiel schon im fortgeschrittenen Stadium befand. Das war aber auch alles. Er war kein Spieler. Vielleicht, wie einmal einer seiner wenigen Freunde bemerkt hatte, weil für ihn nichts eine Herausforderung bedeutete, in dessen Halsschlagader er keinen Puls spüren konnte.
»Hier«, sagte sein Gastgeber und Lehrmeister, beugte sich vor und drehte einen der Spielsteine um, sodass jetzt dessen andere Seite oben lag. Ishmael deutete wortlos auf die vier anderen Steine, die dadurch ebenfalls einbezogen waren. »Ja, aber dann …« Vladimer beugte sich abermals vor, und mit einem Schnippen seiner langen, knochigen Finger löste er eine wahre Welle von Steinen aus, die bis zum Brettrand lief. »Und jetzt …« Er drehte einen einzelnen Spielstein um und schickte der ersten eine zweite Welle nach. »Ich habe noch keine andere Kombination gefunden, die eine so dramatische Änderung des Fortgangs bewirkte.« Er hob den Kopf und runzelte die Stirn. »Sie können das nachvollziehen, oder?«
»Jetzt, da Sie es mir gezeigt haben, ja.«
Vladimer streifte ihn mit einer leichten Sondierung, den Kopf geneigt, während er seine Worte abwog. »Ah, nun, immerhin. Möchten Sie etwas trinken?«
»Verdünnten Wein, Herr, vielen Dank.« Man konnte versucht sein, auf die eigene Trinkfestigkeit zu vertrauen, wenn man seinen Scharfsinn mit dem des erzherzöglichen Meisterspions messen wollte, aber ein kluger Mann versuchte das kein zweites Mal, und ein Narr würde keine dritte Gelegenheit dazu erhalten.
Auf seinen Stock gestützt trat Vladimer hinter dem Tisch hervor. Ishmael war es noch nicht gelungen herauszufinden, ob er diesen Stock wirklich brauchte, nur gewohnheitsmäßig benutzte oder gar zur Täuschung. Vladimer hatte im Alter von neunzehn Jahren einen beinahe tödlichen Unfall mit einer Kutsche erlitten – von dem Ishmael genau wusste, dass es keiner gewesen war –, und seither zurückgezogen gelebt, zumindest soweit es die Gesellschaft betraf. In Wahrheit unterhielt er ein weites und vielfältiges Netzwerk von Verbindungen, das – angefangen von Grenzbaronen bis hin zu früheren Arbeiteraktivisten, von den Besitzerinnen von Edelbordellen bis hin zu einfachen Vertretern – Personen aus allen Kreisen der Gesellschaft umfasste. Wie sein älterer Halbbruder, der Erzherzog, hatte Vladimer das asketische, knochige Gesicht seiner Mutter mit breiter Stirn, weit auseinanderstehenden Wangenknochen und eher eingefallenen Wangen geerbt. Es täuschte bei ihm ebenso über sein wahres Wesen hinweg, wie es dies bei ihr getan hatte. Die Erzherzogin war bekannt gewesen dafür, dass sie den Luxus liebte, das Spiel, die politischen Intrigen und ihre vielen Liebhaber, die sie als Matrone und Witwe gehabt hatte. Nichtsdestotrotz hatte ihr Ehemann, selbst kein Kind von Traurigkeit, sie wegen einiger dieser Neigungen geliebt und die
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