Nachtgeboren - Sinclair, A: Nachtgeboren
zeigte Interesse an der Gefahr, die die Schattengeborenen darstellten, mit Ausnahme von Vladimer – aus welchem Grund auch immer. Vielleicht, überlegte Ishmael, weil der Meisterspion des Erzherzogs auf seine abgeklärte intellektuelle Art die paranoideste Person war, die er jemals kennengelernt hatte. Vladimer verabscheute Geheimnisse, und die Schattengeborenen waren etwas Geheimnisvolles. »Der größte Teil der Schattenländer westlich der Berge besteht aus Wüste. In manchen Jahren würden wir dort nicht von den Früchten des Landes leben können, selbst wenn wir es versuchen würden: wegen der Hitze, des Dornengebüsches, des Mangels an Wasser. Dieses Jahr war für die Bergbauern gut, und die Späher, die wir in die Schattenländer gesendet haben, berichteten, sie hätten dort ungewöhnlich üppige Vegetation vorgefunden. Vielleicht hatten die Schattengeborenen dieses Jahr genug zu essen.«
»Und haben sie sich«, bohrte Vladimer unerbittlich weiter, »in anderen guten Jahren ebenso ruhig verhalten?«
»Nein«, gab Ishmael widerstrebend zu. »Die besten Jahre für unsere Bergdörfer sind die schlechtesten Jahre für die Schattengeborenen.«
»Aha. Also liegen die Dinge in diesem Jahr anders. Was gibt es sonst noch zu bedenken, Schattenjäger?«
Ishmaels Missbehagen wurde heftiger – wieder dieser Titel. »Wir wissen nicht, wie sich die Schattengeborenen fortpflanzen. Wir haben niemals ein Junges von ihnen getötet oder ein trächtiges oder reife Eier tragendes Exemplar. Falls sie keine Jungen haben großziehen können, könnte es daran liegen.«
Vladimer trommelte mit den Fingern auf die Lehne seines Sessels. »Alles Spekulationen.«
»Ein Dutzend Spähertrupps haben sich in den Schattenländern aufgehalten«, sagte Ishmael. »Einer davon ist bis zweihundert Meilen jenseits der Grenze vorgedrungen. Die Späher wurden von den kleinen Bestien behelligt, aber nicht angegriffen. In den Schattenländern selbst ist es ebenso ruhig wie in den Grenzlanden.«
»Zweihundert Meilen weit in den Schattenländern«, sagte Vladimer, »und wir wissen, dass diese Länder von Nord nach Süd sich nicht weiter als acht- bis neunhundert Meilen erstrecken. Und niemand wagt es, in den Schattenländern zu essen oder zu trinken, obwohl die Nahrung und das Wasser dort nicht eigentlich giftig für uns sind, nicht wahr, Ishmael? Vor allem, wenn man über Magie verfügt und feststellen kann, ob sie nicht doch lebensbedrohlich sind?«
»Man kann dort essen und überleben, ja, wenn es sich um eine Frage von Leben oder Tod handelt«, sagte Ishmael sehr leise. »Aber ich glaube, dass man dem Ruf verfällt, wenn man das Wasser und die Früchte dieses Landes zu sich nimmt.«
»Sie haben in den Schattenländern gegessen und getrunken?«
»Ja.«
»Und sind lebend und geistig gesund zurückgekehrt – allerdings hat Sie dieser Ruf ereilt, dem Sie bislang haben widerstehen können.«
»Mylord«, sagte Ishmael zurückhaltend, »bitte bitten Sie mich nicht darum.«
Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. »Ich habe Sie bisher um nichts gebeten. Doch Ihr Instinkt trügt Sie wie immer nicht. Ein alter Fischer erzählte mir einmal von einer Naturerscheinung, einer gewaltigen Welle, die manchmal auf ein Erdbeben folgt. Unmittelbar bevor das Wasser steigt, sammelt es sich draußen vor der Küste. Ein sicheres Anzeichen für das Bevorstehen eines solchen Ereignisses ist, dass das Wasser sich zunächst zurückzieht, also vom Strand wegfließt. Verstehen Sie, was ich sagen will?«
Ishmael glaubte, es zu verstehen, und hoffte, falschzuliegen.
Nachdem er einen Moment vergeblich auf Zustimmung gewartet hatte, fuhr Vladimer fort: »Seit der Fluch ausgesprochen wurde, haben die Schattengeborenen die Grenze unsicher gemacht. Manchmal gab es große Massaker, stets verübt von einzelnen Ungeheuern oder Meuten kleinerer Wesen. Stets haben sie ein instinktives Verhalten an den Tag gelegt. Niemals gab es Anzeichen für die Zusammenarbeit zwischen ihren unterschiedlichen Bruten, und niemals irgendeinen Hinweis darauf, dass sie, falls die Gelegenheit besteht, nicht übereinander herfallen. Und nichts deutet darauf hin, es könne jemals anders sein.«
Er drückte sich aus dem Sessel hoch, stützte sich auf die Armlehne und seinen Stock und humpelte um das Spielbrett herum. Mit einem Klackern drehte er die quadratischen Spielsteine um – von seinem Platz aus schien es Ishmael so, als rekapituliere Vladimer die Aufstellung, die er ihm zuvor gezeigt
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