Nachtgeboren - Sinclair, A: Nachtgeboren
sie seine schwere Erschütterung – wie schroff er sich auch immer ausgedrückt hatte. Aus einem Impuls von Neugier und Mitgefühl legte sie ihm die behandschuhten Finger auf den Ärmel und registrierte sein Zittern. Was konnte einen Mann, dessen außerordentlichen Mut selbst seine Feinde anerkannten, so erschreckt haben? »Geht es Ihnen gut, Baron Strumheller?«
Seine Sondierung badete sie in Ultraschall und musste mehr zum Vorschein bringen, als für ihn bestimmt war. Mit fester Stimme sagte Telmaine: »Sie müssen sich in Ihrer Sondierung mäßigen, Herr! Wir sind hier nicht an der Grenze. Irgendjemand wird Sie dafür zur Rede stellen, wie Sie es wohl verdient hätten, aber dann würden Sie ihn wahrscheinlich im Duell töten, und das wäre außerordentlich unfair.« Mit ihrem Fächer versetzte sie ihm einen leichten Schlag auf den Unterarm. »Kommen Sie, Sie haben mir einen Tanz versprochen.«
»Tellie!«, zischte Sylvide.
Sie winkte Sylvide mit ihrem Fächer zu, schob des Barons Hand fest in ihre Armbeuge und wandte sich mit ihm der Tanzfläche zu. Ihr war bewusst, dass von allen Seiten in ihre Richtung sondiert wurde und sie im Mittelpunkt des Geflüsters stand, das unmittelbar danach einsetzte.
»Warum tun Sie das?«, fragte der Baron mit so gedämpfter Stimme, dass nur sie ihn hören konnte. Er bewegte sich sicher, sogar ohne selbst zu peilen. Sie war beeindruckt. Ihre Brüder hatten sich als jagdbegeisterte junge Burschen in dieser Fähigkeit geübt, waren dabei aber ständig gegen Türpfosten geprallt und über die allgegenwärtigen Ziertischchen gefallen.
»Ich habe ein weiches Herz.« Das stimmte. Ob man es ihr nachsehen mochte oder nicht, sie war sich stets der Qualen jener bewusst, die von der Gesellschaft ausgeschlossen waren. Wo sie es, ohne beleidigend zu sein oder ihr eigenes Geheimnis zu gefährden, vermochte, versuchte sie, deren hartes Los zu mildern und ihre eigene herausgehobene Stellung und Verbindungen zu benutzen, um sie passenden Bewerbern, Freunden und Patronen vorzustellen. Allerdings half sie gewöhnlich Mädchen, denen die Abwesenheit ihrer Familie oder eine peinliche Familie selbst zu schaffen machten, oder – schon schwieriger – begabten jungen Männern aus der Provinz. Und nicht einem Mann, der gut zehn Jahre älter war als sie, Ländereien besaß, die jene ihrer eigenen Familie an Fläche übertrafen, und dazu noch über einen Respekt einflößenden Ruf verfügte.
Dennoch, sie hatte es getan, doch einmal war keinmal.
Sie überließ sich seiner Führung, zog dabei zuerst misstrauisch die Zehen ein, doch er bewegte sich mit Leichtigkeit und drehte sie gekonnt in einem eher förmlichen Stil, der seit wenigstens fünfzehn Jahren aus der Mode war. Sie konzentrierte sich, um sich zu entspannen, sodass er sich ebenfalls entspannen konnte. Er nahm ihren Einwand gegen seine Sondierung geradezu wörtlich, und sie merkte, dass er – abgesehen von den Sondierungslauten anderer – kleine, kaum merkliche Bewegungen ihres Körpers nutzte, um sich zu orientieren und sie über die Tanzfläche zu lenken. Was das Schnüffeln anbelangte, so schien er an dem Musikautomaten nicht beabsichtigt zu haben, sie zu beleidigen; er musste gewohnt sein, seine Umgebung sowohl mit dem Geruchssinn als auch mit dem Gehör und dem Ultraschallsinn zu erkunden. Er hatte tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit mit einer wilden Kreatur.
Nachdem die Musik geendet hatte und er sich umwandte, als wolle er gehen, nahm sie ihn am Arm. »Bitte, bleiben Sie«, sagte sie. »Sie haben keine Vorstellung, welch ein Vergnügen es bereitet, mit einem Mann zu tanzen, bei dem ich mir sicher sein kann, dass er mir nicht auf die Zehen treten wird.«
Ihre Sondierung erbrachte einen Ausdruck wachsamer Heiterkeit auf seinen Zügen. »Mein Vater hat sichergestellt, dass ich über alle höfischen Fähigkeiten verfüge«, sagte er.
Die Musik setzte wieder ein. Sie wartete und reagierte nicht auf den vermutlichen Köder, der sie verleiten sollte, sich zurückzuziehen oder neugierig zu werden. Als nach vier Takten klar wurde, dass sie die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zogen, trat sie einen halben Schritt auf ihn zu, woraufhin er ihre Hand nahm und sie aufs Neue zu führen begann.
Während sie tanzten, fiel ihr ein Hauch von Vladimers besonderem Parfüm auf. »Sie haben gerade mit Fürst Vladimer gesprochen, nicht wahr?«
Er versteifte sich, ohne aus dem Takt zu kommen. Sie drehte sich etwas, und er tanzte sie von ihrer
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