Nachtgeboren - Sinclair, A: Nachtgeboren
hatte, als er mit dem Umdrehen eines einzigen Steins eine Welle der Veränderung über das ganze Brett geschickt hatte. »Aber es gefällt mir immer noch nicht. Ich frage mich weiterhin – und möchte die Frage auch Ihnen stellen –, was passieren würde, wenn eine Brut von Schattengeborenen heranwüchse, die in der Lage wäre, alle anderen Arten von Schattengeborenen zu beherrschen? Was glauben Sie, würde passieren, wenn ein Geschlecht von Schattengeborenen sich erhöbe, das über die Intelligenz, die Gerissenheit und den Ehrgeiz von Menschen verfügte?«
Ein Albtraum, von dem Ishmael selbst in seinen hoffnungslosesten Stunden niemals heimgesucht worden war. In diesem Moment war er dankbar, nicht in Vladimers Haut zu stecken.
»Stellen Sie sich eine Armee vor, Ishmael, aus Skaffern und Glasen und angeführt von … jemandem wie unserem Ferdenzil Mycene vielleicht. Stellen Sie sich vor, diese Armee würde von den Pässen in die Grenzlande strömen. Und dann sagen Sie: ›Bitten Sie mich nicht darum.‹«
Er hörte den dumpfen Laut von Vladimers Stock, als der Meisterspion des Erzherzogs zu seinem Sessel zurückkehrte und sich ihm wieder gegenübersetzte.
»Ich weiß, was ich von Ihnen verlange«, sagte Vladimer beinahe sanft, »und ich weiß auch, jeder andere Mann an Ihrer Stelle würde mich für völlig verrückt halten, weil ich mir über diese Sache mehr Sorgen mache als über die Intrigen Mycenes auf den Scallon-Inseln oder über ein halbes Dutzend anderer Ränke, die außerordenlich fähige Männer hoher und niedriger Geburt zurzeit schmieden. Aber Sie haben Ihr gesamtes Leben als Erwachsener damit verbracht, diese Kreaturen zu jagen und anderen beizubringen, sie zu jagen. Und wenn sie jetzt deshalb keine Plünderzüge unternehmen, weil sie genug zu essen haben oder nicht zahlreich genug sind, sondern irgendetwas oder irgendjemand in den Schattenländern sie unter seiner Fahne sammelt, dann muss ich das wissen. Und es gibt keinen Späher oder Schattenjäger, der diese Länder besser kennt als Sie. Und Sie sind außerdem noch ein Magier.«
»Keinen lebenden Späher oder Schattenjäger«, sagte Ishmael rau. »Es ist nicht so«, fuhr er mit leiserer Stimme fort, »dass ich die Notwendigkeit nicht sähe, Mylord. Das tue ich sehr wohl. Aber über die Grenze zu gehen – ich kann alles Notwendige tun, um mich auf dieser Seite zu halten, doch ich kenne keinen Weg, wie ich das Herz der Schattenländer erkunden könnte, ohne den Verstand zu verlieren.«
Vladimer nickte anerkennend, aber setzte seine eigenen Überlegungen fort. »Selbst wenn dort nichts Außergewöhnliches geschieht, selbst wenn es sich nur um eine natürliche Schwankung ihrer Anzahl handelt – vorausgesetzt, irgendetwas im Zusammenhang mit den Schattengeborenen kann natürlich genannt werden –, möchte ich erfahren, was in den Schattenländern vorgeht. Ich möchte, dass Sie mir eine Möglichkeit dazu aufzeigen. Zehn Jahre lang habe ich mich bei der Abwehr dieser schweren Gefahr auf Ihre Erfahrung verlassen. Nun verlasse ich mich einmal mehr auf Sie. Wenn Sie also willens sind, würde ich gerne ein Experiment versuchen, eine andere Lösung probieren.«
Ishmael lächelte gequält. »Solange es mich nicht in eine schlechtere Lage bringt als die, in der ich mich jetzt befinde.«
»So pflege ich meine Agenten nicht zu verwenden«, sagte Vladimer mit mildem Tadel. »Folgende Idee schwebt mir vor: Der Ehemann der liebreizenden Telmaine – derjenige, den sie zum Entsetzen all ihrer Verwandten geheiratet hat – ist ein Arzt mit einem fachlichen Interesse an Geisteskrankheiten, insbesondere an Störungen der Selbstkontrolle: Abhängigkeiten, Zwangsneurosen, Lichtkrankheit. Ich bin jüngst durch eine seiner erfolgreichen Behandlungen auf ihn aufmerksam geworden: Guillaume di Maurier.« Der junge Mann gehörte zu den berüchtigsten Tagedieben Minhornes – und verschaffte dem Meisterspion wertvolle Einblicke in Minhornes Unterwelt. »Darüber hinaus ist Hearnes Schwester eine bekannte Magierin, und er pflegt eine herzliche Beziehung zu ihr – sehr zum Ärger der Familie seiner Frau, wie ich hinzufügen darf. Es gibt noch mehr hervorragende und erfahrene Ärzte, aber die angeführten Tatsachen machen mich geneigt zu glauben, dass es niemanden gibt, der Ihnen besser helfen kann als er. Ich beauftrage Sie, ihn zu konsultieren und ihm Ihre Erfahrungen zu schildern. Ich werde Sie nicht zu Ihrem sicheren Misserfolg und Tod ausschicken …« – Ishmael
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