Nachtgeboren - Sinclair, A: Nachtgeboren
Schwägerin frei, die bewusst in ihre Richtung sondierte. Sie sagte: »Ich erkenne sein Parfüm. Ich habe den Weg in sein Arbeitszimmer schon als kleines Mädchen beim Versteckspiel mit meinen herzöglichen Cousins gefunden. Er hat mich zu Tode erschreckt, als er mich erwischte, obwohl er, wenn ich es mir recht überlege, damals auch erst einundzwanzig gewesen sein kann.«
Ihre Röcke streiften das Bein eines anderen Tänzers und erinnerten sie daran, dass sie sich nicht allein auf ihn konzentrieren durfte, so wie sie es gern getan hätte. Er spürte, wie sie zusammenzuckte, und sondierte schnell ihre Umgebung mit einem Laut, der nicht einmal Gaze hätte durchdringen können.
»Was hat er getan, um Sie so zu erschrecken?«, fragte sie.
Seine Sondierung glitt über ihr Gesicht, das, wie sie hoffte, einen Ausdruck damenhafter Besorgnis zeigte. »Gnädige Frau«, sagte er, »meinen Sie nicht, dass das eine aufdringliche Frage ist?«
»Durchaus«, antwortete sie. »Aber Vladimer ist mein Cousin. Ich respektiere ihn, weiß, wie wichtig er für den Erzherzog und den Staat ist. Aber falls Sie ihn nicht so gut kennen – er hat einen sonderbaren Humor, und sie sollten ihm deswegen nicht böse sein.«
Er entspannte sich etwas. »Ich kenne Fürst Vladimer – und seinen Humor – seit Jahren. Wenn es Sie beruhigt, er hat mir gesagt, ich solle mit Ihnen tanzen. Er meinte, es würde vielleicht meine Aussichten auf eine Heirat verbessern, wenn ich mich selbst zahm zeigte.«
»Du liebe Güte! Bei allem Respekt vor meinem Cousin, ich glaube nicht, dass ich von ihm einen Rat zum Thema Ehe annehmen würde. Wenn er sich auf etwas versteht, dann darauf, hoffnungsvolle Knospen verwelken zu lassen. Er traut Frauen nicht, was kaum überraschend ist. Seine Mutter war berüchtigt.«
»Gnädige Frau«, sagte er nach kurzem Zögern, »wenn Sie gehofft haben, mir die Grenzen höflicher Konversation aufzuzeigen, so haben Sie mich mehr verwirrt denn je.«
Telmaine schoss das Blut ins Gesicht. »Sie haben Recht, mein Herr. Jetzt ist es an mir, um Verzeihung zu bitten.«
»Ich glaube«, sagte er und führte sie in den nächsten Tanz, »wir sollten keine Strichliste führen. Wir scheinen ineinander das Schlimmste zutage zu befördern. Und was Vladimer angeht, so hatte ich es so noch nicht betrachtet, aber Sie könnten durchaus Recht haben.«
Sie holte tief Luft, um sich nach des Barons Mutter zu erkundigen, die er bisher noch nicht erwähnt hatte, aber dann begriff sie, dass er diese Frage vielleicht nicht gern beantworten würde.
»Man erwartet, dass ich mich Ihrem Mann vorstelle. Ein Befehl Fürst Vladimers.«
Er hatte zwar unbesorgt geklungen, aber seine erneute Anspannung entging ihr nicht. Ohne dass sie es hätte verhindern können, beschlich sie Besorgnis; die wenn auch dünnen Blutsbande und ihre Bedeutungslosigkeit als Frau in seinen Augen mochten ihr eine gewisse Immunität gegenüber Vladimers Machenschaften verleihen, aber ihr Mann stand nicht unter diesem Schutz. Sie schaffte es nicht, ihre Stimme neutral zu halten. »Warum hat Vladimer Sie beauftragt, Balthasar aufzusuchen?«
Die Musik endete mit einem in die Länge gezogenen Rallentando. Dieses Mal ließ der Baron ihr nicht die Gelegenheit, den nächsten Tanz abzuwarten, sondern führte sie entschlossen von der Tanzfläche. Dann sagte er im Schutz der Richtung Tanzfläche strömenden Tänzer leise: »Er glaubt, Ihr Mann könnte in der Lage sein, mich von der Krankheit zu heilen, von der Ihre Freundin gesprochen hat.« Er trat zurück, verbeugte sich entschieden vor ihr und zog sich in die mannigfaltigen Echos des Saales zurück. Energisch fächerte sie sich etwas Luft zu und demonstrierte damit öffentlich, dass sie kein Interesse daran hatte, ihm nachzuschauen. Wie würde der Schattenjäger auf Balthasar reagieren, der ebenso sanft und gelehrt wie unaufhaltsam war, wenn er glaubte, gebraucht zu werden? Der Gedanke an ihren Mann ließ ein vages Gefühl der Schuld in ihr aufkeimen. Töricht, da sie nur zwei Mal mit dem Baron getanzt hatte, was nach allen Regeln der Gesellschaft statthaft war. Sie schloss ihren Fächer, strich Ärmel, Handschuhe und Taille glatt, sodass jeder Eindruck seiner Finger verschwand. Danach umrundete sie einmal die Tanzfläche und erwiderte murmelnd die Grüße anderer – ganz gleich, ob sie freundschaftlich, leicht frostig oder neugierig klangen.
Eine ältere Witwe, die inmitten eines kleinen Hofes ihrer Angehörigen residierte, sprach sie an.
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