Nachtgeboren - Sinclair, A: Nachtgeboren
hochgewachsen, stark verschleiert und elegant in einem lockeren, kunstvoll gewirkten Gewand. Telmaine verspürte den Impuls, sich ihr in die Arme zu werfen, wie sie sich ihrer Mutter oder einer ihrer anderen Schwestern in die Arme geworfen hätte. Sie hielt sich zurück. Merivans Busen spendete keinen Trost, und sie war viel zu klug. »Meri«, erwiderte sie schwach, »was tust du hier?«
Merivan fasste sie am Arm und zog sie über die Schwelle in ihre Räume. Sie musterte die schlichten Möbel. »Ich nehme an, du bist an dergleichen gewöhnt«, bemerkte Merivan, »angesichts deiner Wahl eines Ehemanns, aber dies ist deiner Stellung kaum angemessen.«
»Die Einrichtung«, erwiderte Telmaine, »war kaum unsere Sorge. Was tust du hier? Ich dachte, du würdest noch einige Tage an der Küste bleiben.«
»Wir waren auch dort, aber Fürst Vladimers Krankheit …«
»Krankheit?«, wiederholte Telmaine scharf. »Fürst Vladimer ist krank?«
»Wenn du nach Hause gegangen wärest, wie du es hättest tun sollen, wüsstest du es. Er ist sehr krank geworden, kurz nachdem du fortgegangen bist – was hast du dir nur dabei gedacht, dich von diesem Mann begleiten zu lassen? –, und sobald alle herausgefunden hatten, dass das Haus in solchem Aufruhr war, haben wir beschlossen, die Kinder wegzubringen. Als wir zu Hause eintrafen, erwartete uns eine Nachricht von deinem Haushalt. Deine Diener fragten sich, wo du warst, denn sie hatten dich vorgestern Abend zu Hause erwartet. Außerdem habe ich eine weitere Nachricht von Mutter und Elfreda bekommen, dass sie ebenfalls von deinem Personal verständigt worden seien und ob ich irgendetwas wüsste. Daher entschied ich, als Theophile in dienstlichen Angelegenheiten zum Regierungssitz musste, ebenfalls mitzukommen, damit wir bei dir zu Hause vorbeischauen konnten. Ich habe kaum erwartet, dich hier vorzufinden, noch dazu in einer solchen Verfassung. Telmaine, was hattest du vor?«
Telmaine holte tief Luft und stieß den Atem wieder aus. Holte noch einmal Luft und atmete wieder aus. Sie hatte keine Ahnung, wie sie diese Frage auch nur ansatzweise beantworten sollte.
»Telmaine, du hast doch nichts Törichtes getan, oder?«
Telmaine gab ein Lachen von sich, schlug sich dann aber die Hände auf den Mund, um es zu unterdrücken.
»Hat dieser Mann dich kompromittiert?«
Sie schüttelte den Kopf und mühte sich immer noch darum, ihre Hysterie zu bezähmen. »Oh, wenn es doch nur so einfach wäre!«, brachte sie heraus.
»Wie kannst du das nur meinen?« Ihre Schwester versetzte ihr einen heftigen Schlag. »Fasse dich.«
Auf dem Sofa regte sich Amerdale und begann zu wimmern. Telmaine zog ihre Schwester in das kleine Schreibzimmer und drückte die Tür zu. Merivan befreite sich energisch; sie schätzte es nicht, bevormundet zu werden. »Wo ist überhaupt dein Ehemann? Wenn er den Sommer über bei dir gewesen wäre, wie es sich gehört, wäre so etwas erst gar nicht geschehen.«
»Merivan, wer hat dir gesagt, dass wir hier sind? «
»Diese Kreatur von Vladimer – Blondell. Ich habe keine Ahnung, warum Vladimer ihn so sehr schätzt. Er sagte, Ishmael di Studier habe dich hierhergebracht, also habe ich darauf bestanden, zu dir heraufzukommen.«
»Und hat er dir auch gesagt, dass Balthasar und Amerdale bei mir sind, ganz zu schweigen von Olivede?«, versetzte Telmaine spitz. »Oder bist du einfach davon ausgegangen, du müsstest mich aus einer ehebrecherischen Eskapade retten?«
Der Busen ihrer Schwester hob sich dramatisch. »Telmaine! Bei dir weiß ich nie, was ich denken soll.«
»Das«, sagte Telmaine, »ist nicht gerecht. Balthasar liegt im Schlafzimmer, zu schwach, um das Bett zu verlassen. Baron Strumheller und ich haben ihn fast zu Tode geprügelt in seinem Arbeitszimmer vorgefunden. Die Männer, die dafür verantwortlich sind, haben Flori entführt. Sie denken, Balthasar wisse etwas oder habe etwas, das sie wollen. Baron Strumheller und andere versuchen, Flori zu finden. Er hat uns hierhergebracht, weil er dachte, hier wären wir sicherer.«
Merivan verdaute diese Enthüllungen. »In was hat dein Mann dich jetzt wieder mit hineingezogen?«, fragte sie scharf. »Seine Tätigkeit in der Flussmark …«
Telmaine kaute an der Innenseite ihrer Lippe. Sie verspürte keinen Drang, die Bewohner der Halbwelt zu verteidigen, da sie in dieser Hinsicht Merivans Gefühle teilte, wenn auch aus anderen Gründen. Ihr Balthasar war für bessere Dinge geschaffen als das freie Hospital in der
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