Nachtgeboren - Sinclair, A: Nachtgeboren
Flussmark. Sie musste dem Drang widerstehen, Balthasar zu verteidigen, denn wenn sie das tat, würde ihr wahrscheinlich mehr herausrutschen, als ihre Schwester wissen sollte.
Merivan hob die Hände. »Ich kann nicht vernünftig mit dir reden, wenn du diesen störrischen Gesichtsausdruck aufsetzt.«
»Du redest nicht vernünftig mit mir«, erwiderte Telmaine. Ihre Schwester provozierte sie derart, dass sie alle Vorsicht vergaß. »Du drangsalierst mich, du nörgelst an mir herum, du peinigst mich. Ich weiß, du tust es, weil dir an mir liegt, aber Meri, ich habe zwei schreckliche Tage hinter mir, ich mache mir Sorgen um meinen Mann, bin verzweifelt wegen meiner Tochter« – ich habe Magie benutzt, um meinen Mann zu heilen, und ich verliebe mich möglicherweise gerade in einen anderen Mann, der obendrein ein Magier ist –, »und ich bin müde.«
»Du solltest mit uns nach Hause kommen. Theophile hat Beziehungen, und wenn das nichts hilft, könnte er für Agenten bezahlen.«
»Balthasar soll nicht noch einmal transportiert werden, bevor er stärker ist, und wir alle sind hier sicherer.«
»Sicherer?«, fragte Merivan. »Wovor?«
»Das weiß ich nicht einmal. Ishma… Baron Strumheller weiß es nicht.«
Merivan konnte dieses verräterische Ishma… nicht unkommentiert lassen. »Oh, Telmaine …«
»Ja«, sagte Telmaine mit verbitterter Miene, »du hast mir prophezeit, dass es ein schlimmes Ende nehmen würde mit mir, und vielleicht ist dies jetzt geschehen. Bist du zufrieden?«
Das nahm ihrer Schwester den Wind aus den Segeln. »Nein«, erwiderte sie gekränkt. »Es überrascht dich vielleicht zu hören, dass ich nicht zufrieden bin.«
Telmaine biss sich auf die Unterlippe. »Lass Mutter bitte wissen, dass du mich gefunden hast. Ich erwarte nicht, hier länger zu verweilen, als wir es tun müssen – nicht länger, als es dauert, die Nachforschungen zum Abschluss zu bringen und wir nach Hause zurückkehren können, um wieder ein normales Leben zu führen. Und Merivan – obwohl es nicht so klingt –, ich bin dankbar, dass du zu mir gekommen bist.«
»Du hast Recht«, erwiderte Merivan, »es klingt tatsächlich nicht so. Ich nehme an, für dich ist es einfacher, mit deiner freizügigen Einstellung in puncto Schicklichkeit.«
»Das ist ein altes …«
Sie brach ab, als sie draußen Schritte hörte. Nicht die beinahe geräuschlosen Schritte eines Dieners, sondern schwere Schritte von Männern, die Seite an Seite die Treppe heraufkamen. Ihr Herz begann zu rasen. Die Schritte näherten sich, erreichten jedoch nicht ihre Tür. Nicht an ihre, sondern an eine andere Tür im Flur wurde schwer mit Fäusten gehämmert. Eine schroffe Stimme begehrte Einlass. Keine der beiden Schwestern atmete, weil sie lauschten. Dann hörte sie Ishmael di Studiers unverkennbare, tiefe Stimme, die plötzlich in einem Schmerzschrei endete.
6
Ishmael
Ishmael musste frühzeitig erkennen, dass eine Flucht vor der Verhaftung ebenso nutzlos wie gefährlich war. Eldon rüttelte ihn wach und teilte ihm mit, dass ihr Hausflügel bereits von Bewaffneten in großer Zahl umstellt war. Der Diener hatte Casamir Blondell im Nebenvestibül mit dem Superintendenten über einen Haftbefehl wegen Mordes sprechen hören. Es musste sich fast mit Gewissheit um den Fall Tercelle Amberleys handeln oder um den des Mannes, den er auf der Flucht aus ihrem Haus erschossen hatte – aber wie war seine Tarnung so schnell durchschaut worden? Ruthen hatte ihn bestimmt nicht verraten. War es dann Blondells Werk, und wenn ja, warum? Es gab zwar böses Blut zwischen ihnen, aber gewiss nicht so böses. Er verwarf schnell die Möglichkeit, sein Glück gegen die Meute auf die Probe zu stellen; eine erfolgreiche Flucht war zu unwahrscheinlich, um die Strafe zu rechtfertigen, die Lorcas und Eldon danach wegen ihrer Warnungen zu gewärtigen haben würden. Er rollte sich aus dem Bett und streifte sein zerknittertes Hemd ab. »Holen Sie mir meine Lederweste.« Die Weste mit ihrem Futter aus Metallschienen diente als Panzer gegen Messer und Schutz für seine Rippen, zumindest beim ersten Mal, wenn jemand auf ihn losging. »Wenn dies ein schlechtes Ende nimmt«, sagte er, »müssen Sie den Hearnes Bescheid geben, Guillaume de Maurier habe sich auf die Suche nach ihrer Tochter gemacht; Hearne kennt ihn, und ich bin mir sicher, dass Prinzessin Telmaine von ihm gehört hat.« Er zog die Weste an, ein sauberes Hemd und Handschuhe, und als sie erst die Schritte und das
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