Nachtgeboren - Sinclair, A: Nachtgeboren
war, dass er eingeschlafen war. Als er den Kopf hob, schloss Lorcas gerade die Tür.
»Was …«
»Die Dame hat sich nach Ihnen erkundigt«, sagte Lorcas. »Ich habe erklärt, dass Sie sich ausruhen; sie sagte, wir sollten Sie nicht stören. War das Magistra Olivede?«
»Nein, das war Prinzessin Telmaine Stott, jetzt Frau Balthasar Hearne.«
»Ah«, sagte Lorcas. »Mein Fehler.«
Ishmael sammelte seine Gedanken. »Ich muss Ihnen noch ein wenig mehr erzählen.« Er gab den beiden einen kurzen Überblick über die Ereignisse aus seiner Perspektive, wobei er die Natur von Tercelle Amberleys Indiskretion unterschlug. Es genügte, wenn sie wussten, dass sie eine Dame mit hohen Verbindungen war, die sich kompromittiert hatte. Er berichtete ihnen von Vladimers Bitte – woraufhin die Mienen beider Männer grimmig wurden – und von seiner eigenen Rückkehr in die Stadt mit der verehrten Telmaine, um sich mit ihrem Ehemann, dem Arzt, zu beraten; von ihrer Ankunft bei Balthasar Hearne; von seiner – wobei er die Einzelheiten ausließ – Hilfe für den schwer verwundeten Arzt. Dann erzählte er, wie er sich auf die Suche nach Hearnes entführter Tochter gemacht habe und dass seine Nachforschungen ihn in den stinkenden Unterleib des Brennofens geführt hatten.
Als er zum Ende kam, trat Stille ein. »Herr, Vater«, sagte Eldon bedächtig, »ich denke, ich werde diese Nachricht aussenden, falls ihr mich nicht braucht.«
»Ja, tun Sie das«, erwiderte Ishmael, der die Umsichtigkeit des jungen Mannes kannte.
Eldon ging hinaus und schloss die Tür hinter sich. Ishmael richtete sich in seinem Sessel auf, und Lorcas brachte ihm den in Samt eingeschlagenen Kasten. »Ich werde dafür ins Schlafzimmer gehen«, sagte Ishmael. Lorcas half ihm auf die weichen Beine, stützte ihn auf dem Weg ins Schlafzimmer und brachte ihn mit dem Kasten zu einem Stuhl vor dem Ankleidetisch.
Ishmael öffnete den Kasten mit einer Hand, stützte sich mit der anderen auf, peilte vorsichtig und nahm ein Spiculum heraus. Er legte die Finger darum und spürte, wie sich die darin gelagerte Energie in ihn ergoss und der Schmerz seiner Brandwunden nachließ. Er benutzte ein weiteres Spiculum und dann ein drittes, da sie nur so stark waren wie er selbst. Dann steckte er die verbrauchten Spicula zur Wiederverwendung in eine Seitentasche und schloss den Kasten. Er wusste, dass er einige von ihnen in eine kleine Schatulle legen und sie bei sich tragen sollte, wie er es tat, wenn er sich an der Grenze auf Patrouille befand, aber er zögerte stets, dies zu tun, während er sich unter Standesgenossen befand. Es war keine rationale Vorsichtsmaßnahme, sondern eine irrationale Hemmung. Er hätte mühelos eine Erklärung finden können, die für die meisten akzeptabel gewesen wäre, und jene, die ihn stetig auf Stigmata der Magie beobachteten, hätten die unschuldigen Edelsteine an seinen Manschettenknöpfen und seiner Krawattennadel am wenigsten verdächtigt, vor magischer Energie geradezu zu vibrieren. Aber so war es nun einmal. Er schob den Kasten in die obere Schublade, erhob sich mit ein wenig von seiner alten Gefasstheit, ging zum Bett hinüber und streckte sich darauf aus; er wusste, Lorcas würde dies erwarten und ihn wecken, falls man ihn benötigte.
Telmaine
Als der ältliche Diener die Tür schloss, zauderte Telmaine. Sie hatte getan, was sie tun musste, sagte sie sich, und sich davon überzeugt, dass Ishmael versorgt wurde. Und er würde gewiss gut versorgt werden von diesem beeindruckenden alten Mann, der ihm aufwartete. Sie hatte kein Recht dazu, einfach mit dem Baron allein sein zu wollen, mit Worten zu spielen und ihren Witz an seinem zu messen, seine tiefe, beruhigende Stimme zu hören. Ihn vielleicht abermals zu berühren und seinen warmen, beunruhigenden Geist zu spüren. Sie war eine respektable verheiratete Frau und er ein Magier; sie hatte nicht das geringste Recht dazu.
Sie hörte, wie die Tür geöffnet wurde, und schreckte zurück, als der jüngere Diener erschien. Er fing ihren Peilruf auf, drehte sich um und sondierte sie mit der Schärfe eines Windes, wie er in den Grenzlanden wehte. Sie brauchte dem Kammerdiener keine Rechenschaft abzulegen, daher drehte sie sich ohne ein Wort um und kehrte mit raschelnden Röcken zu ihrem Zimmer zurück.
Sie hatte gerade die Hand auf die Klinke gelegt, als ein vertrauter Peilruf sie erreichte. »Telmaine!«, sagte Merivan mit ihrer herrischen Stimme.
Ihre Schwester kam herbeigerauscht,
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