Nachtgefieder • Laura Gottbergs siebter Fall
die eigentlich immer solche Autos?»
«Ich weiß nicht, vielleicht fühlen sie sich dann stärker.»
Guerrini seufzte tief. «Gut, dass du hier bist, Laura … Es ist ein seltsames Gefühl, wenn man genau weiß, dass jemand auf einen schießt und man dann wegsackt. Ich habe mir beim Wegsacken zugesehen, und ich bin gar nicht erschrocken. Es war irgendwie normal, tat auch nicht weh. Jedenfalls kann ich mich nicht an Schmerzen erinnern. Erst jetzt habe ich Schmerzen, und das Aufwachen war nicht angenehm … vorhin habe ich gedacht, dass Sterben einfacher ist als Weiterleben.»
Laura erwiderte nichts, hörte nur zu.
«Kannst du das verstehen? Ich verstehe es ja selbst nicht.»
«Ich glaube, ich kann es verstehen. Ich war selbst schon ein paarmal am Rand.»
«Was hat dich gehalten?»
«Die Liebe zu meinen Kindern hat mich gehalten, glaube ich. Und außerdem hätte ich ganz gern noch ein bisschen gelebt.»
Guerrini nickte und verzog das Gesicht, weil seine Wunde wieder zu stechen begann.
«Mhm», murmelte er. «Ich hab dich zwischen meinen Halluzinationen gesucht. Mir sind alle möglichen Gründe eingefallen, aus denen ich dich verlieren könnte, Laura. Aber ich will dich nicht verlieren, verstehst du? Ich liebe dich.»
Laura streichelte seine Hand, öffnete sie dann und küsste seine Handfläche.
«An deinem Bett habe ich ein Buch gefunden, das einen seltsamen Titel trägt:
Tristano stirbt.
Was ist das für ein Buch, Angelo?»
Guerrini lächelte und schloss die Augen.
«Typisch Laura, nicht wahr? Schnell weg von zu heftigen Gefühlen … wahrscheinlich liebe ich auch das an dir … weil du ja immer wieder mit heftigen Gefühlen zurückkommst …
Tristano stirbt
… natürlich ist dir das aufgefallen. Es ist die beinahe unerträgliche Geschichte einer Lebenslüge. Ein alter Partisan und Nationalheld liegt im Sterben und bekennt, dass er eigentlich ein Mörder und Betrüger ist.»
«Warum hast du das gelesen?»
Guerrini hustete und bat Laura um die Schnabeltasse, trank ein paar Schlucke.
«Warum wohl. Weil bei uns die Lebenslügen besonders gut gedeihen.»
«Hat es etwas mit deinem Vater zu tun?»
«Auch das.»
«Er hat an deinem Bett gesessen, bis ich ihn abgelöst habe, Angelo. Er hat dich gehalten. Und heute hat er für mich gekocht.»
«Was hat er denn gekocht?»
«Fettuccine mit Trüffeln.»
«Und was hat er erzählt?»
«Dass ihr beide noch immer Krach habt.»
«Was noch?»
«Sonst nichts.»
«Erstaunlich.»
«Er lässt dich grüßen, und ich soll dich fragen, ob du ihn sehen willst.»
«Vielleicht morgen.»
«Ich werde es ihm sagen.»
«Besser übermorgen.»
«Okay.»
«Und jetzt? Was machen wir jetzt?»
«Ich würde gern mit dir schlafen, aber das geht nicht – neben dir schlafen wäre auch nicht schlecht.»
«Ach Laura, du musst mindestens so müde sein wie ich. Lass dir ein Bett bringen!»
«Meinst du, die lassen das zu?»
«Natürlich! Ich bin immerhin Commissario!»
So verbrachte Laura diese Nacht dicht neben Guerrini auf einem Feldbett, das nicht sehr bequem war, und trotzdem schlief sie wesentlich besser als in seiner kalten, einsamen Wohnung. Er dagegen lag lange wach.
ERST KURZ NACH ELF an diesem Abend kehrte Donatella in die Villa Cipriani zurück. Sie hatte sich mit ihrer Tochter in einer Pizzeria getroffen – zu ihrem eigenen Erstaunen. Und ganz offensichtlich auch zum Erstaunen ihrer Tochter, denn Ricarda fragte, ob irgendeine Katastrophe ausgebrochen sei.
«Weshalb denn?», hatte Donatella irritiert zurückgefragt.
«Weißt du eigentlich, wann wir zum letzten Mal eine Pizza gegessen haben? Wir beide zusammen, allein? In einer Pizzeria?», hatte Ricarda ins Telefon gebrüllt.
Als Donatella nicht geantwortet hatte, tobte sie weiter: «Noch nie, seit ich von zu Hause ausgezogen bin! Wieso also jetzt, was ist los?»
«Ich würde dich gern sehen, Ricarda, deshalb.» Donatellas Herz hatte heftiger geklopft als beim Anruf der Erpresser am Nachmittag.
«Ah, du willst mich sehen, und das bedeutet, dass ich antanzen soll?»
«Nein, es wäre nur schön, wenn du kommen würdest.»
«Okay, ich komme.»
Ricarda hatte so plötzlich eingelenkt, dass Donatella es kaum fassen konnte. Deshalb fiel ihr auch kein Lokal ein, und sie musste Ricarda um einen Vorschlag bitten.
Es war ein seltsamer Abend gewesen. Donatella hatte ihre Tochter kaum wiedererkannt. Ricarda hatte ihr langes Haar ganz kurz schneiden lassen, sah aus wie ein Junge, trug eine Lederjacke mit
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