Nachtgefieder • Laura Gottbergs siebter Fall
gierig ein paar Scheiben Salami. Danach riss sie einen Zettel vom Einkaufslisten-Block und machte sich daran, die Struktur des Abends zu entwerfen.
Sie musste unbedingt an dem Schrank aus Olivenholz arbeiten. Mit dem ersten Entwurf war sie nicht zufrieden. Danach eine halbe Stunde im Fitness-Raum, duschen und anschließend ein Film. Irgendwas Leichtes. Oder vielleicht eine späte Talkshow im Fernsehen. «Porta a porta» zum Beispiel. Das lenkte auch gut ab.
Bisher war es ihr gelungen, nicht an Benjamin Sutton zu denken. Weder an den toten noch an den lebenden Benjamin. Während des gesamten Rückflugs aus München hatte sich die vertraute Taubheit in ihr ausgebreitet, und sie hatte nichts empfunden – höchstens, ganz entfernt, eine unbestimmte Angst, die in Wellen aus der Magengegend aufstieg und die sie weggeatmet hatte.
Sie ließ die Hunde in den Park hinaus, warf ihnen ein paar Bälle in den Schnee. Dann kehrte sie ins Haus zurück, nahm das Glas Prosecco mit in ihr Arbeitszimmer und kontrollierte ihre E-Mails. Die ersten fünf betrafen Geschäftliches, Ricardo teilte mit, dass er auf unbestimmte Zeit in Rom bleiben würde, die letzte Nachricht kam von Laura Gottberg. Donatellas Herz raste, noch ehe sie den ersten Satz gelesen hatte.
Nur eine kurze Anfrage, Signora Cipriani. Waren Sie zufällig schon mal zur Erholung im Institut
Vita divina
? Können Sie es empfehlen? Ich hoffe, Sie hatten einen guten Flug.
Laura Gottberg
Plötzlich fiel Donatella das Atmen schwer. Die Angst, die sie während des Fluges weggedrängt hatte, überkam sie nun so heftig, dass ihr schwarz vor Augen wurde. Sie griff nach dem Glas, trank es leer, verschluckte sich, hustete. Ihre Luftröhre brannte, sogar ihre Lungen. Wie war es möglich, dass diese Kommissarin etwas über ihren Aufenthalt im
Vita divina
wusste? Niemand wusste davon! Nicht einmal Ricardo oder ihre Kinder. Auch Benjamin hatte sie nie davon erzählt, ihrer Familie eine Geschäftsreise vorgetäuscht. Es hätte sich ohnehin niemand dafür interessiert, was sie tatsächlich in diesen drei Wochen vorhatte, oder dass sie kurz vor einem Zusammenbruch stand.
Das Institut selbst garantierte absolute Diskretion, und selbst die Klientinnen mussten eine Verpflichtung zum Stillschweigen über andere Erholungsuchende unterschreiben. Deshalb war es völlig ausgeschlossen, dass Laura Gottberg etwas wissen konnte. Was hatte sie gefragt? «Wo haben Sie Benjamin Sutton eigentlich kennengelernt?» Und sie, Donatella, hatte geantwortet: «In Siena.»
Es war ein Fehler gewesen! Warum hatte sie nicht München gesagt oder London, Paris, irgendwas, nur nicht Siena! Warum hatte sie erzählt, dass sie einen Urlaub in der Nähe von Siena verbracht hatte, damals. Was hatte sie noch gesagt? Dass er ihr zugelächelt hatte, ihr gefolgt war, aber dass sie ihn angesprochen hätte. Warum hatte sie das erzählt?
Es stimmte nicht.
Warum hatte sie überhaupt etwas erzählt?
Langsam stand Donatella auf, ging die breite Treppe hinunter, hielt sich am Geländer fest, weil sie ihren Beinen misstraute. In der großen Küche, deren granitgraue Fliesen und dunkelrote Schränke sie plötzlich erschreckten, füllte sie ein Wasserglas mit Prosecco und setzte sich auf einen Hocker, den Sara bei der Arbeit benutzte. Sie trank mit kleinen Schlucken, erinnerte sich genau an den Frühsommertag auf dem Campo von Siena, an die Struktur, die sie jenen Stunden gegeben hatte: Einkäufe nach Liste, Besichtigung des Doms, des Dommuseums und dann zum Palazzo Pubblico und zu den berühmten Wandbildern von der guten und der schlechten Regierung aus der Blütezeit Sienas.
Auf dem Campo hatte sie jedoch ihr Programm unterbrochen, um einen Latte macchiato zu trinken. Sie hatte eine Zeitung dabei, mit deren Lektüre sie diese Unterbrechung füllen wollte. Deshalb achtete sie nicht auf ihre Umgebung, doch irgendetwas störte sie nach einer Weile, und als sie aufsah, fiel ihr Blick auf einen eleganten Mann, der sie ganz offensichtlich beobachtete. In seinen Händen hielt er eine Sonnenbrille, die er wohl gerade abgesetzt hatte, sein Gesicht schien ernst, doch unvermutet lächelte er kaum merklich, schloss die Augen und lehnte sich entspannt zurück – mit einem unhörbaren Seufzer vielleicht?
Er war ein schöner Mann mit dichten dunkelbraunen Haaren, leicht gebräunter Haut, beinahe aristokratischen Zügen. Die Art seines Lächelns, wie er die Augen schloss und sich zurücklehnte – Donatella meinte den Seufzer zu
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