Nachtgesang
endlich ins Reich der Träume. Und eine seltsame, kalte Strömung ergriff ihn und brachte ihn an einen unbekannten und doch seltsam vertrauten Ort ...
An einem grasbewachsenen, von Wurzeln durchzogenen Ufer strömte das Wasser in einer kleinen Bucht. Ein Junge saß am Ufer und lehnte sich in einem gefährlichen Winkel nach vorn, während er seine Füße über dem langsam fließenden Fluss baumeln ließ. Seine Ellbogen ruhten auf seinen Knien, die Hände hatte er auf das Kinn gestützt und schien mit jemandem zu reden. Vielleicht mit sich selbst.
Jakes Schatten fiel auf ihn und der Junge drehte seinen Kopf, um ihn anzusehen. Er schien nicht im Geringsten überrascht über Jakes Anwesenheit (aber Jake ebenfalls nicht). Im Gegenteil, er lächelte ein schwaches, krampfhaftes, aber doch anerkennendes Lächeln. »Hallo! Du bist also gekommen. Warum setzt du dich nicht eine Weile und redest mit mir?«
»Ich, äh, wollte dich nicht stören!«, antwortete Jake, der nicht wusste, was er sonst sagen sollte. Da er nicht wusste, was er sonst machen sollte – und sich fragte, ob er den anderen kannte – leistete er der Aufforderung Folge, setzte sich und fragte den Jungen: »Äh, hältst du es für möglich, dass wir uns schon einmal irgendwo gesehen haben?« Plötzlich kam ihm das alles sehr seltsam vor und er schaute den Jungen genauer an, vielleicht sogar vorsichtig.
Abgesehen von der offensichtlichen Tatsache, dass sein Gegenüber vor Kurzem eine Rauferei gehabt hatte, gab es nichts so besonders Seltsames an ihm. Er war vielleicht ein verwahrloster Junge, aber aus irgendeinem Grund bezweifelte Jake das. Er war elf oder zwölf Jahre alt, hatte rötlichblonde Haare und Sommersprossen; er war nicht dürr, aber dennoch füllte er kaum seine schlecht passende, abgetragene, gebrauchte Schuljacke aus. Der oberste Knopf seines einst weißen Hemdes, das halb aus seinen grauen Flanell-Hosen hing, fehlte und eine ausgefranste, eng gebundene Krawatte mit einem ausgeblichenen Schulwappen hing schief aus seinem verknitterten Kragen. Auf seiner Knollennase saß eine Brille mit kleinen, runden Gläsern, durch die verträumte, blaue Augen in einer seltsamen Mischung aus Verwunderung und Erwartung hervorschauten.
Dann bemerkte der Junge plötzlich, dass Jake ihn betrachtete, schaute an sich hinunter und rümpfte angeekelt die Nase. »Das ist das Werk des großen Schulhofschlägers, Stanley Green. Er wird schon noch sein Fett wegbekommen, unser Stanley. In etwa einem Jahr oder zweien.« Seine Lippen verzogen sich zu einem engen, dünnen, entschlossenen Strich.
In seinem Mundwinkel war Blut aus einer Schnittwunde festgetrocknet, aber in seinen verträumten Augen, die jetzt nicht mehr so verträumt aussahen und einen gewissen Glanz ausstrahlten, war wenig oder gar keine Furcht zu sehen. In der Tat sahen sie älter aus als der Rest, diese Augen, und Jake hatte das Gefühl, dass dort, irgendwo hinter dem irgendwie etwas ruhelosen Gesicht, ein sehr reifer Verstand ruhte. Aber nicht in einer Million Jahren hätte er erraten können, wie reif oder wie weise dieser un-irdische Verstand war.
Da der Junge noch nicht seine erste Frage beantwortet hatte (nämlich ob sie sich kannten oder nicht), fühlte sich Jake nun gezwungen, noch einmal nachzufragen: »Nun, mein Sohn?«
Aber er hätte sich keine Gedanken machen brauchen. Der andere hatte sehr wohl Jakes frühere Frage gehört und ging nun auch auf sie ein.
»Sohn«, wiederholte er schließlich und neigte seinen jungen-alten Kopf zur Seite. »Und du fragst dich, ob wir uns kennen? Nun, ich muss beide Fragen mit Nein beantworten. Nein, nein, Jake. Du und ich wir kennen uns nicht, noch nicht. Und ich fühle mich nicht besonders wohl dabei, wenn du mich ›Sohn‹ nennst. Es ist eine Frage des – ich weiß nicht – was war zuerst da, die Henne oder das Ei?« Es lag keine Feindseligkeit in seiner Stimme.
»Hä?«, Jake runzelte die Stirn. »Noch jemand, der mit Rätseln um sich wirft? Das brauche ich jetzt wirklich nicht.«
»Aber es ist unglaublich spannend«, sagte der Junge, der überhaupt nicht wie ein Kind klang, trotz seiner Kinderstimme. »Äh, sie zu lösen, meine ich. Das habe ich zur Genüge getan, Jake.« Er setzte sich aufrecht hin und sah Jake direkt in die Augen, studierte sein Gesicht und vielleicht mehr als nur sein Gesicht: »Du bist das also. Und es hat dir ziemlich zu schaffen gemacht, oder?«
»Nun, da du zu verstehen scheinst, was hier vor sich geht«, antwortete Jake,
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