Nachtgesang
die du bisher noch nicht aktivieren musstest, geschweige denn wusstest, dass du sie besitzt! Jedenfalls ist Seelenwanderung nicht das, was ich ... was ich im Sinn habe. Ich habe meine Zeiten gehabt, Jake, mein Leben – und ich habe es immer noch –, aber ich verstehe deine Skepsis. Also gut, lass uns etwas anderes versuchen ...«
Bis eben schien noch die warme Abendsonne durch die Bäume am Ufer und ließ das Wasser in der Mitte des Flusses, wo die Strömung am stärksten war, leuchten. Jetzt war es innerhalb von Sekunden kalt und dunkel geworden; Frost hatte sich in einer dicken Schicht über den Boden gebreitet und der Fluss war ein Band aus gefrorenem, starren Eis. Der Vollmond hing tief über dem windgepeitschten Himmel und vor drei ausladenden Häusern waren jetzt Gärten zu sehen, die rechts von dort, wo Jake und der Junge den Fluss entlangliefen, angelegt worden waren. Nur dass Jakes Begleitung nicht länger ein Junge, sondern ein Jugendlicher war.
Jake wollte von dem Fremden weg – stolperte, wäre beinahe in das reichlich vorhandene frostige Brombeergestrüpp am Flussufer gefallen –, aber Harry reagierte schnell und ergriff seinen Arm, um ihn aufzufangen. »Es ist okay«, sagte er, um Jake zu beruhigen. »Es ist eine andere Zeit, ein älteres Ich von mir, mehr nicht. Aber derselbe Ort, mehr oder weniger. Derselbe Fluss. Wir waren da hinten«, er deutete in die Luft zu einem Pfad hinter ihnen »ein paar hundert Meter den Fluss hinunter saßen wir am Ufer. Es war Sommer, und ich sprach gerade mit meiner Mutter, als du kamst. Jetzt ist es ... oh, ein paar Winter später. Ich bin etwas näher an deinem eigenen Alter dran, also werden wir vielleicht besser miteinander klarkommen.«
Näher an meinem eigenen Alter?, dachte Jake. Aber du bist auch viel kräftiger. Du hast meinen Arm verdammt festgehalten und wie viel stärker hast du meinen Geist im Griff?
Aber der jugendliche Harry schüttelte enttäuscht den Kopf. »Es wird dir nicht helfen, zu versuchen, deine Gedanken zu verstecken. Ich bin hier drin, erinnerst du dich? Nun, momentan bin ich es zumindest, solange du mich tolerierst.«
»Herrje!«, keuchte Jake. »Das ist wie in dem Film Eine Weihnachtsgeschichte! Wenn ich aufwache, werde ich es nicht glauben.«
»Das fürchte ich auch«, sagte Harry. »Oder schlimmer noch, du erinnerst dich vielleicht nicht einmal daran. Deshalb sollten wir die Dinge in Angriff nehmen, solange wir noch können und hoffen, dass sie sich in dein Gehirn einprägen.«
»Dinge?«
»Bis du mir vertraust«, antwortete der andere, »bis du mir dauerhaften Aufenthalt gewährst, werden wir nur stückweise vorankommen. Wir kommen nicht voran, bis ich die ganze Geschichte kenne, und ich werde dir nicht helfen können, bis du glaubst.«
»Bis ich an Geister glaube?«
»Ich bin kein Geist, nicht wirklich. Und Jake, du glaubst gar nicht – ich meine du würdest wirklich nicht glauben –, wie oft ich das schon durchgemacht habe! Oh, ich hatte Probleme, andere vor dir zu überzeugen.«
Während Harry sprach, betrachtete Jake ihn. Es war gewiss derselbe »Junge«, aber jetzt war er 19 oder vielleicht 20 Jahre alt. Er war drahtig, wog an die 60 Kilogramm und war ungefähr 1,80 Meter groß. Er hatte einen sandfarbenen Wuschelkopf, der Jake an Clint Eastwood in den alten Western der 70er-Jahre denken ließ. Aber seine Miene war nicht so hart und seine Sommersprossen waren geblieben und verliehen ihm fälschlicherweise einen naiven und harmlosen Ausdruck.
Mehr als alles andere waren Harry Keoghs Augen interessant. Wenn sie Jake ansahen, schienen sie komplett durch ihn hindurchzusehen (das sichere Zeichen dafür, dass er ein ESPer war, das wusste Jake nun), als ob er ein Wiedergänger war und nicht das Gegenteil. Aber sie waren ach so blau, diese Augen, ein verblüffendes, farbloses Blau, das immer so unnatürlich aussieht, dass man denkt, dass jemand mit einer solchen Augenfarbe einfach Kontaktlinsen tragen muss. Und abgesehen davon war etwas in ihnen, das zeigte, dass sie mehr gesehen hatten als ein 20-Jähriger das Recht hat zu sehen.
Jake fühlte sich jetzt etwas besser. Schließlich war alles nur ein Traum. Und da dieser Geist, oder was auch immer er war, gerne redete, warum sollte er also nicht mit ihm sprechen? Oder ihm seinen Willen lassen, je nachdem.
»Aber wenn du herausgefunden hast, dass es schwierig ist, Leute zu überzeugen, warum machst du dir dann überhaupt die Mühe?«, fragte er seinen seltsamen Begleiter.
Sie
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