Nachtgesang
Warum denkst du, wurden sie von der Sternseite verbannt?
Ich werde es sicher gleich herausfinden, bemerkte Harry. Aber ich warne dich. Zwar spielt Zeit keine Rolle, aber versuch dich trotzdem kurz zu fassen. Ich bin nicht der Geduldigste und hätte Besseres zu tun. Verstanden?
Selbstverständlich, antwortete der Vampir.
Ohne Pause fuhr Korath fort; und dank der Totensprache – und auch weil der einstige Leutnant seine Geschichte sehr bildhaft erzählte – lauschte Jake. Zusammen mit seinem Mentor ließ er sich bald von der Erzählung mitreißen ...
»Es war vor Hunderten von Jahren«, begann Korath, »obwohl es mir, der ich so viel Zeit im Eis verbracht habe – gefroren und bewegungslos, sogar meine Gedanken waren konserviert –, vorkommt, als wäre es am gestrigen Tag gewesen. Oder vielleicht am gestrigen Abend.
Ich gehörte zum Vadastra-Clan; ich war sogar der Sohn des Oberhauptes, Dinu Vadastra. Wir lebten im Wald, viele Kilometer östlich des großen Passes zur Sternseite. Wir arbeiteten hart, indem wir Nutzvieh hielten, aufzogen und züchteten. Und wir jagten und fischten. Durch unseren festen Wohnsitz – der für Szgany, die Nomaden sind, eigentlich sehr ungewöhnlich war – musste mein Vater sich nicht ständig ein neues Revier aneignen. Wir wurden auch nicht von fremden Siedlern bedrängt; unser Land wurde sogar von all den benachbarten Stämmen gemieden. Der Grund dafür war, dass mein Volk aus Lehnsleuten, Tributanten, bestand, die einen Anteil ihrer Waren (›den Zehnten‹, wie ihr sagen würdet) Lord Nephran Malinari von Malinshöhe auf der Sternseite, genannt Malinari das Hirn, entrichteten.
Fragt mich nicht, ob mir diese Situation gefiel. Ich wurde in sie hineingeboren und kannte es nicht anders, genau wie der gesamte Stamm der Vadastras; nur die Ältesten aus meinem Volk waren Traveller gewesen, die einst wie wahre Nomaden gelebt hatten. Das Leben als Tributanten passte zumindest ihnen perfekt; die Wamphyri hatten kein Interesse an uraltem, verschrumpeltem Fleisch oder ausgetrocknetem Blut. Also waren die Ältesten sicher, solange sie arbeiten konnten und wilden Honig und Waldfrüchte sammelten. Mein Vater war ebenfalls sicher, denn obwohl er noch nicht in die Jahre gekommen war, so war er dennoch das Stammesoberhaupt, das Malinari als Hüter der Abgaben auserkoren hatte ... Aus diesem Grund hatte man großen Respekt vor ihm und gehorchte seinen Befehlen meist ohne großen Widerspruch. Meistens, aye.
Mein Vater, Dinu Vadastra, war ein harter Mann: groß, breitschultrig und ein Tyrann. Wenn weniger bedeutende Männer sich über den ›Raub‹ ihrer Frauen, Söhne und Töchter beschwerten, die als Tribut abgegeben wurden, ging er sehr hart mit ihnen um. Es konnte sogar sein, dass sie als Unruhestifter abgeurteilt und unabhängig von der allgemeinen Auswahl für Malinaris große Feste auserkoren wurden, wenn seine Schergen das nächste Mal ihre Runden drehten.
Es gab ein Mädchen, das ich liebte ... zumindest denke ich, dass ich sie liebte, aber all diese Dinge sind inzwischen für mich ein großes Mysterium. Liebe? Das ist etwas für warmblütige Wesen. Jetzt gibt es – oder gab es – nur noch Lust. Als mein Herr und seine Leutnants unter den sogenannten ›freien‹ Stämmen der Sonnseite jagten, oh, das war Lust! Ahhhhhh!
Aber bitte vergebt mir, dass ich abschweife. Denn ich sehe, dass ihr das nicht wissen wollt ...
Was die junge Frau betrifft, die ich vielleicht oder vielleicht auch nicht liebte, lassen wir das. Es genügt zu sagen, dass sie mein Untergang war. Mein erster Untergang zumindest ...
Ihr müsst verstehen, dass Malinari nicht habgierig war – zumindest nicht, solange die Wamphyri in Frieden miteinander lebten und kein Blutkrieg im Gange war –, aber er war sehr wählerisch. Seine Schergen, allesamt Leutnants, wussten, dass er nur das Beste von der Sonnseite wollte. Keinen zähen Honig, keine bitteren Pflaumen oder mageren Tiere für Malinari und keine Burschen mit schiefen Zähnen oder Mädchen mit krummen Beinen. Mein Vater war immer darauf erpicht, einen angemessenen Tribut zu leisten. In seltenen Fällen gab er ein Fass seines weniger-als-besten Pflaumenschnapses ab, einen verkrüppelten Maulesel oder etwas Wild, das gerade mal etwa einen Tag zu lange hing, aber nie etwas unerhört Beleidigendes. Und dasselbe galt für seine Geschäfte mit menschlichem Fleisch.
Einsame Wanderer, die nachts unser Lagerfeuer sahen und von den Grenzbergen herunterkamen, um sich
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