Nachtgesang
Sonnenuntergang völlig unsichtbar wurde. Er schuf keine Nebel, verdeckte keine Sterne und warf keine Schatten. Doch er wurde gesehen, wenn auch nur einmal, von einem Szgany – in einem Gewitter, als es blitzte –, und dann nie wieder. Aber der Mann, der ihn gesehen hatte, war bis zu seinem Tod geistig umnachtet, und sein Tod kam bald. Er ging in den Wald, um sich dort ein Loch zu graben, in dem er sich verstecken konnte, aber er hörte nie auf zu graben! Und als die Grube plötzlich über ihm zusammenbrach, schrie er auf, aber nicht aus Angst, lebendig begraben zu werden, sondern weil er sich freute wie ein Irrer ... denn er war endlich sicher, und Lord Szwartz konnte ihn nun nicht mehr holen.
Ich weiß nicht, was Lord Szwartz war, nur, dass er ein Wamphyri war.
Damit bleibt noch einer übrig, vielleicht der Gefährlichste von ihnen: Lord Nephran Malinari – genannt Malinari das Hirn, oder einfach nur das Hirn – war ein Mentalist, ein Gedankenräuber, ein Gedankenleser ohnegleichen. Keiner von Ben Trasks Telepathen aus dem heutigen E-Dezernat hätte eine Chance gegen Lord Malinari in einem Gedanken-Kampf gehabt, nicht einmal alle von ihnen zusammen. Lass mich dir seine Geschichte erzählen:
Bei den Szgany gibt es noch seltsamere Talente als bei den Völkern der Erde. Mein eigener sechster Sinn – mein Seherblut – ist nur ein Beispiel. Aber wir hatten auch Mentalisten und Traumdeuter und sogar Männer wie Ian Goodly, aye, obwohl ihre Vorahnungen im besten Falle zweifelhafte Ergebnisse lieferten. Denn, wie ich schon sagte, steckt in allen Menschen der Sonnseite eine Spur der Wamphyri; ihr Laster wird weitergegeben, vielleicht sogar in dieser Welt. Aber Malinari ... war etwas Besonderes. Seine Bosheit war besonders! Unter den Wamphyri selbst hatte Lord Nephran Malinari keine Freunde. Aber versteh mich nicht falsch, Jake: Es ist ja nicht so, dass die Wamphyri enge Freundschaften pflegten. Sicher nicht, aber manche von ihnen schlossen Bündnisse, nun, gelegentlich zumindest. Aber nicht mit Malinari dem Hirn. Wie kann man einer Kreatur, die jeden Gedanken kennt, die bei jedem Schachzug einen Schritt voraus ist, trauen oder mit ihr auch nur ein gutes Verhältnis haben? Die Wamphyri sind hinterhältig, geheimniskrämerisch ... aber wie konnte man ein Geheimnis vor Malinari bewahren?
Er musste einen nur anfassen, seine bloße Berührung mit der Fingerspitze war, wie wenn die Gedanken des anderen wie Wasser – oder Blut? – aus ihrem Besitzer herausflossen, in das Gehirn von Malinari hinein. Ah, ein Vampir der besonderen Art: Er hatte zwei verschiedene Arten von Durst, einmal Blutdurst und dann auch noch Wissensdurst! Nicht nur Neugier, Jake, sondern die Gier nach Wissen selbst. Und wenn Nephran Malinari etwas erfuhr, so vergaß er es nie.
Aber natürlich gab es auch auf der Sonnseite, genau wie auf dieser Welt, Menschen, die nicht durchschaut werden konnten. Vielleicht lag es an ihrer Willenskraft oder einfach nur an ihrem Wesen, jedenfalls war da eine Schutzmauer in ihrem Gehirn, die kein gewöhnlicher Mentalist je durchbrechen konnte. Ah, aber Lord Malinari war kein gewöhnlicher Mentalist. Ich habe gesagt, dass seine Berührung die Pforten öffnete. Tat sie auch, wie wenn man einen Damm eines überlaufenden Flusses öffnet. Aber wenn die leichte Berührung mit den Fingerspitzen nicht ausreichte ... gab es noch einen anderen Weg.
Fingerspitzen ... und die unglaubliche Kraft der Wamphyri ... Trask sagt, dass ihre Metamorphose es ihnen ermöglicht, ihre steifen Finger in die Brust der Menschen zu bohren und das Herz zu erreichen. Ich glaube das auch, denn es war sicherlich keine rohe Gewalt, die Malinari einsetzte. Seine Finger waren beweglich wie Flüssigkeit und gaben ihm die Möglichkeit, in den Ohren, hinter den Augäpfeln oder direkt im Gehirn seines Opfers zu forschen. Und wann immer das Hirn die Gedanken seines Opfers stahl ... blieb nichts mehr übrig. Nicht einmal der Lebenswille.
Wir sind fast durch. Was dir noch gesagt werden muss, erzählt dir Ben Trask – zu seiner Zeit.
Nur eins noch. Ich sprach von Vavara, Lord Szwartz und Malinari dem Hirn in der Vergangenheit, denn so erfuhr ich von ihnen, an einem Lagerfeuer, an dem mir Legenden erzählt wurden, als ich noch ein Junge war. Der letzte Teil der Legende besagt, dass sich vor 400 Jahren die anderen Lords und Ladys der Sternseite zusammentaten, um sie loszuwerden. Sie brauchten all ihre Kraft und versammelten all ihre Truppen, um sie
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