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Nachtgieger

Nachtgieger

Titel: Nachtgieger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilse Maria Dries
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bis sie schließlich im Bett lagen. Und Andrea hoffte inständig, dass er all das nicht nur einer der kleinen, täglich wechselnden Launen Nikkis zu verdanken hatte.
     
    Andrea rief bei sich zu Hause an, um zu sehen, wie sie heute drauf war, aber sie ging nicht ans Telefon. Wahrscheinlich war sie schon zur Arbeit gegangen. Andrea fiel auf, dass er sie gestern gar nicht gefragt hatte, ob sie noch immer bei dem Redaktionsbüro arbeitete, bei dem sie einige Monate vor der Trennung angefangen hatte. Nikki wechselte ihre Arbeitsstellen so oft, dass sie durchaus schon den übernächsten Job haben konnte. Andrea beschloss, später bei ihrer alten Firma mit dem prätentiösen Namen „Wortschatz Textdienstleistungen Gombrowski & Partner GmbH“ anzurufen und sich nach Nikki zu erkundigen. Wenn man dort bei der bloßen Erwähnung ihres Namens den Hörer aufknallte, würde er wenigstens wissen, dass sie wie üblich nach einem bösen Streit gegangen war.
     
    Als Andrea gerade die letzten Glasscherben zusammenfegte, kam Gruber vom Nachbarhaus, ein stämmiger Frührentner, mit zwei leeren Bierkästen und einem vorwurfsvollen roten Gesicht.
    „Gestern war um Viertel nach fünf schon zu“, sagte Gruber anstelle einer Begrüßung. „Zwei leere Bierkästen habe ich gestern hergeschleppt, umsonst.“ Er knallte die beiden Kästen in eine der Pfützen und verlangte nach seiner „Wochenration“ – zwei Kästen Marienburger, ein Billigbier aus Niederbayern. Wobei „Wochenration“ ein Euphemismus war: Er kam mindestens zwei- bis dreimal die Woche. „Ich hab gedacht, Öffnungszeiten sind dazu da, dass man sich darauf verlassen kann.“
     
    So war es immer. Machte er einmal früher zu, hagelte es Proteste. Wäre er aber gestern bis 18 Uhr im Laden geblieben, wäre kein Schwein mehr gekommen. Auch nicht Gruber. Denn gestern war einer dieser Tage gewesen. Tage, an denen nichts lief. Andrea wusste an diesen Tagen oft schon am Mittag, dass der Faden gerissen war, dass die Kundschaft weiß Gott was trieb, auf jeden Fall keine Bücher und kein Bier kaufen wollte. Vor Jahren schon hatte er versucht, herauszubekommen, woran es lag, dass an bestimmten Tagen einfach kein Geschäft zu machen war. Er hatte die verschiedensten Parameter durchprobiert, sich Notizen gemacht, ohne dass sich eine statistisch signifikante Verteilung ergeben hätte. Weder waren es bestimmte Wochentage, auf die „diese Tage“ besonders häufig fielen, noch lag es offenbar am Wetter. Weder dem Monatsanfang noch dem Monatsende war die Schuld zu geben, und auch die Veröffentlichung von Konjunkturprognosen der fünf Wirtschaftsweisen war deutlich ohne jeden Einfluss.
    Irgendwann hatte er sich dann damit abgefunden, dass das Auftreten dieser Tage zu den unerklärlichen Phänomenen dieser Welt gehörte, wie Computerabstürze und Börsenkurse. Also Metaphysik, und dagegen konnte man nichts machen.
    Schicksalsergeben versuchte er daher, das Beste daraus zu machen. Eine Zeitlang war ihm eines wenigstens noch als sicher erschienen: dass man wirklich mittags schon erkennen konnte, ob es „einer dieser Tage“ war oder nicht. Er hatte dann, besonders im Sommer, schon am frühen Nachmittag zugesperrt und war schwimmen gegangen. Am nächsten Tag riefen dann zehn zornige Kunden an oder machten gar persönlich ihre Aufwartung. Wie Gruber behaupteten alle erzürnt, sie wären am Vortag mit dringenden Einkaufsbedürfnissen vor der verschlossenen Tür gestanden, und einige (vor allem solche, die Andrea noch nie gesehen hatte) fügten drohend hinzu, dass er sie als Kunden los sei, sollten sich derartige Unzuverlässigkeiten wiederholen. Blieb er aber bei 30 Grad im Schatten brav im Laden sitzen, sehnsuchtsvoll den fröhlichen Menschen nachblickend, die mit Handtüchern auf dem Gepäckträger Richtung Isar radelten, kam niemand. Am nächsten Tag ging er dann wieder baden – und hatte am übernächsten wieder die zornige Meute am Hals.
    Jedenfalls hatte Andrea in den sechs Jahren, in denen er als Besitzer, Geschäftsführer und meist einziger Mitarbeiter von „Bier & Bücher“ mit dem seltsamen Phänomen namens „Kundschaft“ zu tun hatte, nach und nach seinen Glauben an den logischen Bau der Welt, zumindest des von Menschen verantworteten Teils davon, gründlich verloren. Lange genug hatte er noch versucht, einen Rest Rationalität hinter dem Verhalten der Kunden zu finden, nach Indizien für eine breit angelegte Verschwörung zum Beispiel. Vielleicht gab es ja eine dunkle

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