Nachtgieger
is.“ Wittgenstein-Zitat oder bäuerliche Lebensweisheit? Andrea konnte sich nicht mehr an den Kontext erinnern, in dem Kare diesen Satz gesagt hatte. Die Ähnlichkeit zu Wittgenstein war ihm auch erst nach dem Gespräch aufgefallen. Ein andermal war er völlig selbstvergessen vor dem Lyrik-Regal im Laden gestanden und hatte in einem Gedichtband von Paul Wühr gelesen, während Andrea einer Kundin den Wasserkasten zum Auto getragen hatte. Andrea war damals hinter ihn getreten und hatte zwei Gedichtzeilen laut gelesen. Kare war hochgeschreckt, rot geworden (soweit man das in seinem zugewachsenen braunen Gesicht erkennen konnte), hatte das Buch zugeschlagen und etwas Unverständliches gemurmelt. Andrea schätzte ihn auf Mitte bis Ende 40, obwohl er wie die meisten seiner Standesgenossen älter aussah mit dem zotteligen langen Bart, der fleckigen Gesichtshaut und dem Filzhaar. Kare wohnte von Frühjahr bis Herbst mit einigen anderen zusammen unter der Wittelsbacherbrücke, zumindest seit damals, als er vor zwei Jahren zum ersten Mal in Andreas Laden aufgetaucht war. Im Winter war er nie zu sehen; vielleicht machte er im Herbst einen Spaziergang nach Sizilien und schlief warm unter den Brücken von Palermo. Wenn es dort Brücken gibt, dachte Andrea.
Mit viel Blaulicht und Getute kam ein Polizeibus, und die drei Penner wurden trotz Andreas Protest hineinbugsiert. In Begleitung des Schnurrbart-Polizisten konnte Andrea endlich den Laden betreten. Es sah wüst aus. Ganze Türme von Bier- und Saftkästen waren umgekippt. Die Einbrecher hatten Bücher von den Regalen gefegt, die jetzt wie Strandgut in der braunen Soße lagen. Und es stank wie in einem Oktoberfestzelt um Mitternacht, wenn sich langsam die Kotze in den Bierlachen auflöst. Andrea rettete einen Band Erzählungen von Borges aus der Pfütze und blätterte traurig durch die nassen, gewellten Seiten.
„Fehlt irgendwas?“ Der Stimme des Schnurrbärtigen war anzumerken, dass er den Fall gerne abschließen wollte.
„Schwer zu sagen.“ Andrea öffnete die altertümliche Registrierkasse. „Geld haben sie jedenfalls keines mitgenommen.“
„Dann is’ ja alles halb so schlimm. Rufen S’ uns an, wenn S’ genau wissen, was fehlt. Und melden S’ den Schaden Ihrer Versicherung.“
Der Polizist stieg draußen zu seinem Kollegen ins Auto. Sie schalteten kurz das Martinshorn an, um bei Rot über die Ampel zu kommen, und verschwanden Richtung Arbeitsamt in der Kapuzinerstraße. Die letzten Gaffer gingen ihrer Wege, die Wolkendecke war ein wenig dünner geworden, und der Tag sah fast freundlich aus ohne die Blaulichtblitze. Andrea stand zwischen den Pfützen und dachte mit Unbehagen an den Versicherungsheini, den er gleich würde anrufen müssen. Seit Monaten bekniete der ihn, endlich eine Alarmanlage einzubauen. Andrea hatte immer nur gelacht: Warum sollte bei ihm jemand einbrechen! Hoffentlich machte die Versicherung jetzt keine Mucken. Er seufzte und wählte die Nummer. Ein Tonband belehrte ihn, dass er außerhalb der Bürozeiten anrief, und bat, eine Nachricht zu hinterlassen. Er hinterließ.
Aufräumen. Bierkisten stapeln. Scherben kehren. Lachen wischen. Bücher trocknen. Andrea kam ins Schwitzen. Er war in den nikkilosen Monaten ein wenig fett geworden und würde bald einmal abspecken müssen. Das hieß vor allem: Kein Bier; er würde sich eine Zeitlang mehr der anderen Warengruppe in seinem Sortiment zuwenden.
Andrea kam es vor, als ob er seit Tagen nichts anderes tat, als aufzuräumen. Erst gestern Abend hatte er seine ganze Wohnung auf Vordermann gebracht. In den drei Monaten, in denen Nikki nicht bei ihm gewesen war, hatte er die Wohnung ebenso vernachlässigt wie seinen Körper. Aber als sie gestern Morgen überraschend angerufen und gesagt hatte, sie habe Appetit auf Andreas Spaghetti alla Putanesca, wollte er ihr möglichst wenig Kritikpunkte liefern. So chaotisch Nikki ansonsten auch war: Dreck hasste sie abgrundtief. Und da er sie nicht schon beim ersten Wiedersehen an die lange – und wie er zugeben musste, in großen Teilen zutreffende – Liste seiner Defizite erinnern wollte, die sie ihm vor drei Monaten vorgebetet hatte, bevor sie ihn verließ, hatte er seinen Laden eine Stunde früher geschlossen und die Wohnung geschrubbt. Der Abend war dann auch ein voller Erfolg geworden: Nikki lobte die Spaghetti, sagte, wie sehr ihr die Putanesca gefehlt habe, lobte dann ihn, Andrea, und dass er ihr ebenfalls gefehlt habe, kuschelte sich an ihn,
Weitere Kostenlose Bücher