Nachtgieger
dann fuhr sie fort: „Kati hat mich angelogen, sie war nicht mit ihrer Freundin unterwegs. Gretchen hat mich angerufen, als sie von dem Mord erfahren hatte. Sie hatten nicht vorgehabt, ein gemeinsames Wochenende zu verbringen. Sie hat Kati zum letzten Mal am vergangenen Freitag bei der Morgenschicht getroffen.“
Mandy notierte sich die Adresse von Gretchen und dem Obstgroßhändler, um diese Angaben zu überprüfen. „Ist Ihre Tochter in letzter Zeit öfter über das Wochenende weggefahren?“, fragte sie weiter.
„Zweimal.“ Das wusste Alfons Simmerlein ganz genau. „Kati sprach davon, mit einer Freundin einen Kurztrip zu machen. Ich bin bisher davon ausgegangen, dass sie Gretchen meinte. Aber inzwischen bin ich mir da nicht mehr so sicher.“
Er trank vorsichtig einen Schluck von dem heißen Kaffee. „Meine Kati und auch Gretchen waren mit ihrem Hilfsarbeiterjob als Packerinnen bei dem Obstgroßhändler unzufrieden, sie wollten mehr aus ihrem Leben machen. Ich bin davon ausgegangen, dass sie diese freien Wochenenden dazu nutzten, um über eine Ausbildung oder eine Abendschule zu diskutieren. Aber wer weiß, mit wem meine Tochter tatsächlich unterwegs war.“
„Das werden wir herausfinden“, versicherte Mandy den Eltern.
Frau Simmerlein ergriff das Wort: „Ich war misstrauisch, als mir meine Tochter von ihrem geplanten Wochenendausflug erzählte. Kati hat sich noch nie für Sport interessiert und jetzt wollte sie plötzlich wandern gehen. Ihre Freizeit verbrachte sie hauptsächlich an ihrem Computer. Aber ich wollte nicht weiter in sie dringen, ich habe meiner Tochter immer vertraut und war mir sicher, dass sie mir schon noch berichten würde, was sie an diesem Wochenende vorhatte. Und jetzt ist es zu spät. Hätte ich sie doch nur nicht gehen lassen.“
Marga Simmerlein sank in sich zusammen und schluchzte herzzerreißend. Ihr Mann legte liebevoll den Arm um sie und versuchte, sie zu trösten: „Mach dir keine Vorwürfe, Marga, du kannst nichts dafür. Kati war volljährig, sie musste nicht Rechenschaft über ihre Aktivitäten ablegen, und das wollten wir auch nicht. Unsere Tochter war sehr selbständig und verantwortungsbewusst. Sie ist einem Wahnsinnigen in die Hände gefallen, davor kann man niemanden schützen.“ Er wiegte seine Frau in den Armen, bis sie sich etwas beruhigte.
„Ihr Mann hat vollkommen recht“, bekräftigte der Kommissar die Worte von Alfons Simmerlein. „Und wir werden alles tun, um dieses Verbrechen an Ihrer Tochter aufzuklären.“
Gerd Förster war erleichtert, als er erkannte, dass die beiden fähig waren, sich gegenseitig zu trösten und Trost anzunehmen. Er fuhr fort: „Wir möchten uns gerne das Zimmer Ihrer Tochter anschauen.“
„Selbstverständlich.“ Alfons Simmerlein stand auf. „Folgen Sie mir. Es befindet sich im ersten Stock.“
Er führte die Kommissare eine steile Holztreppe hinauf, deren Geländer mit feinen Schnitzereien verziert war. Dann ging es ein Stück den Flur entlang über dunkle Holzdielen. Alfons Simmerlein öffnete eine Tür am Ende des Ganges: „Das ist das Zimmer meiner Kati, lassen Sie sich Zeit, ich warte unten in der Stube auf Sie.“
Mandy Bergmann und Gerd Förster betraten den Raum. Es war ein hübsches Zimmer. Obwohl die Holzfenster zwischen den Balken des Fachwerkes recht klein waren, wirkte es hell und luftig. Die verputzte Wand zwischen den Streben war an der Fensterfront und auf der rechten Seite, an der sich ein kleiner Schreibtisch mit einem Computer darauf befand, weiß gestrichen. Die linke Wand, an der das schmale Bett stand und die Seite, deren Tür zum Flur führte, waren in einem zarten altrosa Farbton gehalten. Direkt neben der Zimmertür hatte ein wuchtiger, kunstvoll mit Blumenmotiven bemalter Bauernschrank seinen Platz. Über das Bett war eine dicke Patchworkdecke in Rosa- und Rottönen gebreitet. Darauf lagen viele bunte Kissen in unterschiedlichen Größen und Formen und Dutzende von Stofftieren verteilt. Rechts oberhalb des Schreibtisches hing ein mit Reißzwecken befestigtes Poster an der Wand, auf dem sich Lady Gaga in aufreizender Kleidung, die sich aus rohen Steaks zusammensetzte, präsentierte.
„Ein typisches Mädchenzimmer“, meinte Mandy und blickte sich um. „Allerdings beeindruckend aufgeräumt.“ Sie öffnete den Bauernschrank und begann, systematisch die Kleidung von Kati durchzusehen. Tote hatten keine Privatsphäre. „Da ist nichts Auffälliges“, berichtete sie. „Klamotten, wie
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