Nachtglanz - Heitmann, T: Nachtglanz
hielten, dass endlich der Frühling Einzug hielt, während Toskas russische Seele nach eisklirrender Kälte verlangte. Oder zumindest nach einem Klima, das ihren üppigen Brokatmantel mit Fuchspelzbesatz nicht lächerlich aussehen ließ.
Heute sah sie endlich ihre Chance gekommen. Selbst als ihre Zofe sie auf die zwischen den Wolken hervorbrechende Sonne hinwies, hatte sie ihre Meinung nicht mehr ändern wollen.
Sogar die Pelzkappe, das eigentliche Schmuckstück dieses Aufzugs, zwängte sie über ihr hochgestecktes Blondhaar, das sie normalerweise stets zu betonen bemüht war.
Als sie im Salon mit ihrer Gesellschafterin Raisa zusammentraf, entglitten der älteren Dame für einen Moment die Gesichtszüge. Auch wenn Raisa es spätestens seit ihrem Toskanaaufenthalt aufgegeben hatte,Toskas Garderobe zu beurteilen - einfach, weil es ihr nicht gelingen wollte, die jeweilige Mode eines Landes und die mit ihr einhergehenden Regeln zu begreifen -, so ahnte sie trotzdem, dass dieser Aufzug zweifelsohne Aufsehen erregen würde. Nun, vermutlich wollte Tosjenka, wie sie die junge Frau in gedankenverlorenen Momenten zärtlich nannte, auch genau das erreichen. Zwar pflegten die Pariserinnen einen ausgesprochen gewagten, gar verspielten Stil, aber Tosjenka sah in ihrem aufwendigen Brokatmantel aus wie die Heldin aus einem Wintermärchen. Fehlte nur noch der von Hirschen gezogene Schlitten.
Allerdings kannte Raisa den Hang der jungen Frau zu exzentrischen Auftritten, mit denen sie ihre Langeweile zu bekämpfen versuchte, und ließ ihn ihr gern durchgehen. Mit einem übertriebenen Aufzug konnte sie nämlich deutlich besser fertigwerden als mit den anderen Mätzchen, mit denen Tosjenka ihre Geduld in den letzten Monaten auf die Probe gestellt hatte.
Mir hätte schon viel früher klar werden müssen, dass sie mit ihren einundzwanzig Jahren kein Mädchen mehr ist, dachte Raisa, während Toska herausfordernd ihre Pelzkappe zurechtrückte, als warte sie nur auf einen Tadel, den sie in den Wind schlagen konnte. Anstatt das Kind auf Reisen zu schicken, hätten ihre Eltern sie besser schleunigst verheiraten sollen. Nun, da Tosjenka auf den Geschmack gekommen war, wie überaus unterhaltsam männliche Gesellschaft sein konnte, würden sie das möglichst rasch nachholen müssen.
Es hatte nicht viel gefehlt, und Toskas Großtante, die sie auf diese Europareise eingeladen hatte, hätte etwas von der unmöglichen Affäre bemerkt, die ihre Nichte bereits während ihres Aufenthalts in der Toskana eingegangen war. Glücklicherweise gehörte dieses Problem nun der Vergangenheit an und hatte allem Anschein nach keinen größeren Schaden als heftige Gefühlsschwankungen bei Tosjenka hinterlassen.Was allerdings nicht weiter auffiel, denn die junge Dame schwankte ohnehin stets zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt. Vielleicht war es auch dieser ewigen Unruhe geschuldet, dass Raisa sich der jungen Frau schon länger nicht mehr gewachsen fühlte und ihr deshalb entschieden mehr Dummheiten durchgehen ließ, als sie einer Dame aus gutem Hause eigentlich zustanden.
Ich werde langsam alt, gestand Raisa sich ein, als sie in Tosjenkas trotzige Miene blickte. Nein, sie verspürte nun wirklich kein Verlangen, diesen Aufzug zu kommentieren. So seufzte sie nur und sagte: »Wollen wir dann also zu einem kleinen Spaziergang aufbrechen, bevor Ihre Frau Großtante Sie zum Abendessen erwartet?«
Augenblicklich leuchtete jenes strahlende Lächeln auf, für das Toska berühmt-berüchtigt war und für das man ihr schon viel hatte durchgehen lassen. Zu einer leichten Plauderei anhebend, hakte sie sich bei ihrer Gesellschafterin ein und steuerte den Weg zum Foyer an. Erst als sie die letzten Stufen der geschwungenen Treppe nahmen, verlangsamte Toska merklich ihren Schritt, damit auch keinem der dort verweilenden Gäste ihre Ankunft entging. Obwohl sie den Kopf hoch erhoben trug, sah sie doch alles und stellte mit Genugtuung fest, dass sie - wenn auch nur für einen Augenblick - im Zentrum der Aufmerksamkeit stand. Mehr hatte sie jedoch bei diesem verwöhnten Publikum des Grand Hôtels auch nicht erwartet. Allein dafür hatte es sich gelohnt, ordentlich ins Schwitzen zu geraten.
Sobald sie zur Eingangstür hinaus waren, würde sie die Pelzkappe abnehmen - das stand fest.
Während Raisa bereits zielstrebig auf den Ausgang zuhielt und an ihrem Arm zerrte, schenkte Toska der anwesenden Allgemeinheit ein Lächeln, wobei ihr Blick geübt über die Gesichter
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