Nachtglanz - Heitmann, T: Nachtglanz
schweifte, ohne wirklich eins wahrzunehmen. Geradeso, wie sie es bei den Schauspielerinnen der hiesigen Theater gesehen hatte, denen es mit einem Lächeln gelang, das gesamte Publikum einzufangen. Allerdings entglitten Toska ganz unvermittelt die Züge, als sie an einem Gesicht hängen blieb, das man auf keinen Fall übersehen konnte. Ohne Warnung blieb sie wie angewurzelt stehen und brachte somit die arme Raisa ins Stolpern und damit um ihre Würde.
Mit offenem Mund stand Toska da und starrte den Mann an, der ein Gespräch an der Rezeption führte.
»Charles?«, brachte sie schwach hervor. In ihrer Stimme schwang etwas mit, das Verzückung und Unglauben verriet.
Raisa, die mit Schamesröte auf den Wangen gerade um eine Erklärung wegen des abrupten Halts bitten wollte, folgte dem Blick der reglos dastehenden Frau. Als sie den Auslöser für Toskas Verhalten entdeckte, schlug sie sich rasch die Hand vor den Mund, um ein Aufstöhnen zu unterdrücken.
In der Zwischenzeit löste sich Toska von Raisas Arm und schritt wie eine Traumwandlerin auf die Rezeption zu. Augenblicklich vergaß Raisa, dass einige wartende Gäste sich die Zeit damit vertrieben, sie zu beobachten. Sie packte die junge Frau so fest am Arm, dass diese aufkeuchte, und zischte ihr ins Ohr: »Sie werden nicht zu ihm gehen!«
Zunächst blickte Toska verblüfft drein, als sei sie überrascht, dass außer diesem Mann und ihr überhaupt noch jemand anders auf der Welt existierte. Aber dann wich die Verblüffung bockiger Entschlossenheit, die Raisa in den vergangenen Monaten zu fürchten gelernt hatte.
»Natürlich werde ich Charles Guten Tag sagen, warum denn nicht?«
Raisa fielen sofort unzählige Gründe ein, warum sie das tunlichst unterlassen sollte, aber sie nannte nur den herausragendsten, der Toskas Stolz beträchtlich gebrochen hatte: »Weil Charles Sie gerade verlassen hat - zum zweiten Mal übrigens innerhalb der wenigen Monate, seit Sie seine Bekanntschaft gemacht haben. Und das aus dem schlichten Grund, weil er eine alberne Zugfahrt Ihrer Gesellschaft vorzieht.«
Toska zuckte zusammen, fing sich jedoch schnell wieder. Viel zu schnell für Raisas Geschmack. »Ach, hat er das? Und warum steht er dann hier im Foyer? Vermutlich erkundigt er sich gerade nach mir. Das wird eine Überraschung geben. Charles liebt Überraschungen.«
Sie wollte weitergehen, doch Raisa weigerte sich, von ihrem Arm abzulassen. »Hören Sie, Sie haben doch bereits mehr als ein Mal herausgefunden, wie unberechenbar Charles ist. Seien Sie froh, dass Sie nach seiner unverfrorenen Abreise vor ein paar Tagen einen guten Grund haben, ihn zu ignorieren. Soll er einer anderen Frau das Herz brechen.«
»Charles hat mir doch nicht das Herz gebrochen«, erwiderte Toska mit einem künstlichen Lächeln. »Ich finde ihn unterhaltsam, mehr nicht.«
»Wenn Sie ihn nur unterhaltsam finden, dann verstehe ich nicht, warum Sie Ihre Großtante so penetrant genötigt haben, bereits im März nach Paris zu reisen anstatt wie geplant im Mai, wenn nicht seinetwegen. Unterhaltung gab es auch in den toskanischen Städten - das haben Sie ja erst bemerkt, nachdem er abgereist war. Und wozu der ganze Aufwand? Vier gemeinsame Tage in Paris, und dieser Unmensch kauft sich einfach eine Zugkarte, um sich der nächsten lockenden Zerstreuung hinzugeben. Wie gut, dass Ihre Tante sich standhaft weigert, den Osten Europas zu bereisen, weil hier demnächst die Weltausstellung
eröffnet wird.Ansonsten säßen wir jetzt vermutlich ebenfalls in diesem Orientexpress.«
Doch Toska hörte ihr gar nicht zu. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt Charles und seinem weich fallenden Haar, das im Licht der Lüster wie dunkler Honig schimmerte. Sie betrachtete sein Profil, das sich ihr so sehr eingebrannt hatte, dass es jedes Mal aufleuchtete, wenn sie die Augen schloss. Sie studierte die Rückenlinie, deren kraftvolle Muskeln sie ausgiebig erkundet hatte, und die Hände, die mit einem Zylinder spielten. Sie war derartig gefangen von seinem Erscheinungsbild, dass es für verletzten Stolz und zu wahrende Würde keinen Platz mehr gab.
Während Raisa ununterbrochen in beschwörendem Ton auf sie einredete, befreite sich Toska aus ihrem Griff und ging auf die Rezeption zu. Aufgeregt wartete sie auf den Moment, in dem Charles’ grün funkelnde Augen sie endlich finden würden. Nicht einmal, als diese Katzenaugen sie tatsächlich streiften, ohne sie mit Beachtung zu würdigen, blieb sie stehen. Es war ganz gleich, wie er sich
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