Nachtglanz - Heitmann, T: Nachtglanz
sollte auch ausgerechnet die Dämonenwelt einfacher zu durchschauen sein als die menschliche? Wundervoll wurde es immer nur dann, wenn man einen Buchdeckel aufschlug und in das Leben von Fremden eintauchte.
So gesehen, hatte Esther genau das getan, als sie vor drei Jahren mit ihrem halb leeren Koffer in Los Angeles angekommen war: Sie war in das Leben einer fremden Frau eingetaucht, mit einem Perfektionismus, der selbst sie überrascht hatte. Allerdings war ihr auch nichts anderes übriggeblieben, denn die Vergangenheit hatte ihr eine Pistole auf die Brust gesetzt und ihr zugeraunt, dass sie nur noch diese eine Chance bekam.
Esther hatte sie ergriffen, obwohl sie bis heute, wenn sie abends im Bett lag und wieder einmal nicht einschlafen konnte, immer noch die Berührung der Mündung auf ihrer vor Angst nassgeschwitzten Haut zu spüren glaubte. Als wäre sie keineswegs entkommen und der innere Frieden, den sie wie die Luft zum Atmen brauchte, noch lange nicht erreicht.
Wie ertappt bemerkte Esther, dass ihre Fingernägel Kerben in das Papier der Buchseiten gegraben hatten. Sogleich bemühte sie sich um ein Lächeln, auch wenn keiner sie sah. Es gehörte zu ihren Techniken, die nach außen hin sichtbare Anspannung abzuschütteln. Anders mochte ihr diese Seite ihrer Persönlichkeit nachsehen, aber ansonsten konnte sie sich solche Brüche in ihrem stets so perfekten Bild nicht erlauben. Schließlich glaubte jedermann fest an jene Esther mit der gewöhnlichen, ja, geradezu langweiligen Vergangenheit, die erst hier im sonnigen Kalifornien von einer unspektakulären Knospe zu einer prachtvollen Blüte aufgegangen war: ein makelloses Auftreten, aber auch einen Tick zu kühl, um das Blut der Männer in Wallung zu bringen. Genau die richtige Mischung, wenn man in dieser Stadt überleben wollte.
Dass einer Blüte noch eine andere Eigenschaft - die der Zerbrechlichkeit - innewohnte, bedachte Esther lieber nicht. Zerbrechlichkeit konnte sie sich nicht leisten, denn sie hatte sich bereits in einem früheren Leben schon einmal neu zusammengesetzt, nachdem sie zerbrochen war. Ein weiteres Mal würde ihr das gewiss nicht gelingen.
Nun begannen die Küsse der klaren Januarluft doch Spuren auf ihrer Haut zu hinterlassen. Esther stand auf, legte das Buch auf den Stuhl und blickte in den Garten, auf den ihr Apartment hinausging. Größtenteils wurde er von einem rasenumrundeten Pool eingenommen, in dem einige welke Blätter vom Nachbargrundstück schwammen. Der blau getünchte Grund wies aufgeplatzte Stellen auf, und auch der Beckenrand war mit unzähligen
Sprüngen übersät. Eigentlich ein deprimierender Anblick, aber Esther liebte ihn. So wie sie das ganze Viertel von West Hollywood liebte.
In Gesprächen neigte sie zwar zur Zurückhaltung, denn wer wenig erzählte, konnte nichts Falsches sagen - oder sich gar verraten.Allerdings schwärmte sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit vom Charme der Gegend, deren beste Zeit vorüber war. Dass bei ihrem kleinen Apartment darüber hinaus auch nur wenige Kosten anfielen, erwähnte sie dabei natürlich nicht. Anders entlohnte sie zwar sehr gut für ihre Dienste.Vermutlich zu gut, hätte die eine oder andere Bekannte hinter vorgehaltener Hand getuschelt, wenn sie jemals einen Blick auf ihren Gehaltsschein geworfen hätte. Aber sie war nicht gerade sparsam - ihre Garderobe war der beste Beweis dafür. Und so blieb am Ende des Monats nichts übrig, obwohl die schönen Kleider das allein nicht erklärten. Esther vermied es, jemandem darüber Rechenschaft ablegen zu müssen.Was sie mit ihrem Geld machte, war ganz allein ihre Angelegenheit … vorerst jedenfalls noch. Sobald es mit ihrem Verlobten Hayden ernster wurde, müsste sie selbst diese letzte Verbindung zu ihrem früheren Leben kappen, auch wenn ihr der Gedanke bereits jetzt schlaflose Nächte bereitete.
Während Esther sich die mit Gänsehaut überzogenen Oberarme rieb, kehrte sie ins Apartment zurück, das eigentlich nichts anderes als ein gut geschnittener Raum war, in dem sich ein Einbauschrank, eine Küchenzeile - eigentlich eine Theke - und ein Sofa, das gleichzeitig ihr Bett war, befanden.
Hayden hatte das Apartment erst ein Mal zu sehen bekommen. Anstatt wie sonst unten beim Hauseingang auf sie zu warten, hatte er an ihrer Tür geklopft. Und während sie in ihre Pumps geschlüpft war, hatte er neugierig seinen Blick schweifen lassen, um möglichst viel in der kurzen Zeit, die sie ihm zugestand, von dem Raum aufzunehmen.
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