Nachtglanz - Heitmann, T: Nachtglanz
Maske erstarrt waren.
Jetzt will ich ihn nicht mehr.
Die Stimme klang geradezu beleidigt. In diesem Moment hätte Adam alles dafür gegeben, ihr den Hals umzudrehen. Gereizt wischte er sich mit der Hand übers Gesicht, ungeachtet der Tatsache, dass sie blutverschmiert war. Dann erst blickte er sich um, doch niemand war auf den Hof gekommen, um nach dem Rechten zu sehen. Kein zufälliger Passant, kein Bewohner aus dem düsteren Mietshaus. In einer Hinsicht hatten die beiden toten Männer Recht behalten: In diesem Viertel scherten
sich die Leute tatsächlich nicht darum, wenn sich jemand vor Angst und Schmerz die Lungen aus dem Leib schrie. Sogar die eben noch erleuchteten Fenster waren jetzt dunkel, als habe man rasch die Lichter gelöscht.
2
Nachtschwärmer
Die Nacht war schon weit vorangeschritten, als Adam sich in einem Viertel wiederfand, in dem auch zu dieser Uhrzeit noch reges Treiben herrschte. Bars, Lokale und Theater lockten mit bunten Lichtern und Stimmengewirr die Nachtschwärmer, und auch er konnte sich diesem Sog nicht entziehen. Literaturcafés konkurrierten mit Tanzlokalen, aus Kellern tönte Musik, Automobile polterten über die Pflastersteine. Die Atmosphäre war berauschend, die Garderoben der Damen waren hinreißend. Es wurde in verschiedenen Sprachen geflirtet, geschimpft und auch so manche intellektuelle Diskussion geführt. Die Straßen waren voller Leben - und genau das zog Adam fast gegen seinen Willen an. Einzutauchen in dieses pulsierende Leben war eine Versuchung, auch wenn es ihm vor Augen führte, dass er abseits dieser Melange aus Künstlern, Freudenmädchen und von Abenteuerlust heimgesuchten Bürgerlichen stand.
Seit er den Hinterhof in Belleville, ohne sich einmal umzudrehen, verlassen hatte, ließ er sich treiben. Die Suche nach einer Unterkunft hatte er aufgegeben, genau wie er sich weigerte, seine ramponierte Kleidung zu richten. Seine nicht müde werdenden Beine trugen ihn immer weiter voran. Die Leute wichen ihm aus, manche drehten sogar den Kopf nach ihm um, aber das kümmerte ihn nicht. Er befand sich in einem Zustand vollkommenen Desinteresses, denn das, was er wahrnahm, war nicht real.
Alles um ihn herum war eine einzige Lüge.
Davon war er überzeugt, seitdem seine Wunde sich von selbst verschlossen hatte, seinen Händen eine unnatürliche Kraft innewohnte und eine Stimme in seinem Inneren ihn zu überreden versuchte, ein Blutbad anzurichten. Dabei konnte er nicht einmal sagen, was ihn mehr verstörte: die Abweichungen seines Körpers von der Norm oder der Eindringling mit seinen Einflüsterungen. »Das ist doch völlig gleichgültig«, raunte er sich selbst zu.
Allem Anschein nach war er ein Geisteskranker, dem es gelungen war, seiner Obhut zu entkommen, und der nun ohne eine Erinnerung durch eine Stadt lief, die ihm fremd und vertraut zugleich war.Vielleicht war er ein Schizophrener, der verletzt umherirrte, während er in seinem Wahn glaubte, unversehrt aus dem Kampf hervorgegangen zu sein. Es konnte durchaus sein, dass ihm das Blut unvermindert aus seiner eingeschlagenen Nase lief, während er nur getrocknete Spuren und nicht einmal eine Schwellung ertasten konnte. Wer konnte schon sagen, ob der Kampf in Belleville überhaupt stattgefunden hatte?
Unvermittelt blieb Adam stehen, schlug die Hände vors Gesicht und stieß ein bitteres Lachen aus. Er sollte zusehen, dass ihn irgendjemand in die Nervenheilanstalt brachte, in die er zweifellos gehörte.
Reiß dich zusammen , fauchte die Stimme ihn an. Du erregst auch so schon viel zu viel Aufmerksamkeit.
»Der Gedanke an eine Nervenheilanstalt gefällt dir wohl nicht«, stellte Adam fest. Mittlerweile machte es ihm nichts mehr aus, lautstark mit einer nicht vorhandenen Person zu sprechen. Schließlich war er verrückt, warum sollte er das verbergen? »Wundert mich nicht. Sicherlich haben sie dort Mittel, dich zum Schweigen zu bringen. Meinetwegen können mir die Irrenärzte ruhig den Schädel aufstemmen, um dich aus meinem Kopf zu kratzen. Hauptsache, ich werde dich samt deiner Teufelskunst los.«
Das wäre gewiss eine interessante Erfahrung mit der Nervenheilanstalt, aber ich befürchte, ich habe andere Pläne mit dir.
Adam ersparte sich eine Entgegnung und sah sich stattdessen auf der belebten Straße um. Um diese Zeit waren jede Menge Betrunkene und Tunichtgute unterwegs. Die wenigen Passanten, die einen halbwegs anständigen Eindruck machten, wechselten die Straßenseite, bevor Adam sich dazu entschließen
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